
Leo - der Löwe, ein Name, der viele Assoziationen weckt. Foto: unsplash.com
Der römische Löwe: Gedankenspiele zum Papst-Namen
Inmitten der vielen Stimmen zum neuen Papst versucht der Theologe Simone Parise, Papstnamen historisch nachzuspüren.
Simone Parise*
Während der endlos wirkenden Minuten zwischen dem weissen Rauch und der Verkündigung der Papstwahl blendete die Fernsehregie von Vatican Media mehrfach den Obelisken in der Mitte des Petersplatzes ein. Schnell war dieses «fremde» Relikt – das als stiller Zeuge des Martyriums Petri geglaubt wird – von einer bunten Menschenmenge umringt.

Jedes Mal, wenn ich in Rom bin, «pilgere» ich in die Mitte des Platzes, weil mich die lateinische Inschrift auf der Ostseite des Sockels tief berührt: «Seht das Kreuz des Herrn. Fliehet ihr Feinde, denn der Löwe aus dem Stamme Juda hat gesiegt.»
Staunend über diese gedankliche Verquickung vernahm ich den Namen des neuen Papstes: Leo, der Löwe. Mit eigenen Worten wiederholte er die lapidare österliche Botschaft am Fusse des Obelisken: «Gott liebt uns, Gott liebt euch alle, und das Böse wird nicht siegen! Wir sind alle in Gottes Hand. Deshalb lasst uns ohne Angst, Hand in Hand mit Gott und miteinander vereint, voranschreiten.»
Ein waffenloser Sieg am Mincio
Als ich über Leos Botschaft vom waffenlosen und entwaffnenden Frieden nachdachte, schweiften meine Gedanken – als grosser Opernliebhaber – zur eindrucksvollen Szene in Giuseppe Verdis Attila, in der Papst Leo I. dem Hunnenkönig entgegentritt. Am Ende des ersten Aktes kommt es zur kurzen, aber eindrucksvollen Begegnung zwischen den zwei grossen Gestalten.
Auf der einen Seite die Weisheit und moralische Überlegenheit des greisen Papstes, auf der anderen Seite die Machtgier und Gewaltbereitschaft des Eroberers Attila. Mit fester Bassstimme befiehlt der Papst dem Hunnenkönig:
«Dein Auftrag lautet einzig,
die Menschheit zu geisseln.
Weiche zurück!
Der Weg ist nun versperrt.
Dies ist das Reich der Götter.»
Der legendenhaften Überlieferung zufolge war Leo I. – später der Grosse genannt – Teil einer römischen Gesandtschaft, die Attila im Jahr 452 am Fluss Mincio bei Mantua entgegentrat. Die Verhandlungen mündeten in einen unerwarteten Rückzug des gefürchteten Hunnenkönigs. Die Legende rechnet diesen waffenlosen Sieg dem Verhandlungsgeschick und der moralischen Autorität des Papstes zu.

Ein Fresko von Raffael aus dem frühen 16. Jahrhundert zeigt diese Begegnung – und feiert die Überlegenheit der Päpste gegenüber rein weltlichen Herrschern. Es schmückt die Stanza di Eliodoro in den Vatikanischen Museen, nur wenige Schritte von der Sixtinischen Kapelle entfernt.
Enttäuschte Hoffnungen
Mit seiner Oper Attila setzte Giuseppe Verdi ein politisches Zeichen. Der italienische Komponist war eine symbolische Figur des Risorgimento, der italienischen Einigungsbewegung. Der Aufstand gegen den fremden Invasor Attila diente Verdi als Allegorie für den Freiheitskampf gegen die österreichische Fremdherrschaft. Die Uraufführung der Oper fand 1846 in Venedig statt – im selben Jahr wurde Pius IX. zum Papst gewählt. Zunächst als liberaler Reformer gefeiert, hofften viele, er würde zu einer geistlichen Leitfigur des nationalen Aufbruchs werden.
Doch diese Hoffnung trog. Pius IX. wandte sich gegen die republikanische Bewegung und wurde zum Symbol des konservativen Widerstands gegen die italienische Einigung. Nach der Einnahme Roms 1870 und dem Untergang des Kirchenstaates untersagte er den italienischen Katholiken mit dem «Non expedit», sich am politischen Leben zu beteiligen.
Eine neue Hoffnung auf Versöhnung keimte mit Leo XIII. Doch auch er hielt an der alten Politik fest. Leo XIII. ist schwer zu fassen: Einerseits ein Papst der Isolation im Vatikan, andererseits Autor von 86 Enzykliken, mit denen er Brücken zur Welt zu schlagen versuchte. Seine Sensibilität für die „neuen Dinge“ (Enzyklika Rerum novarum, 1891) kontrastiert mit seiner Ablehnung der historisch-kritischen Bibelauslegung (Enzyklika Providentissimus Deus, 1893). Seine Wiederbelebung der scholastischen Theologie war ein Versuch, die kirchliche Lehre für die Moderne fit zu machen.
Mit der Enzyklika Testem benevolentiae (1899) verurteilte er den sogenannten «Amerikanismus» – also die Bemühung, den Katholizismus stärker an die Prinzipien von Freiheit, Demokratie und Pluralismus anzupassen. Ist es nur eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet der erste US-amerikanische Papst den Namen Leo wählt? Dass Leo XIII. in mancherlei Hinsicht als Wegbereiter der späteren Antimodernismuskrise unter Pius X. gelten kann, gibt zu denken.
Brücken statt Festungen in «franziskanischer» Kontinuität?
Von der ersten Stunde an machte der neue Papst Leo XIV. deutlich, dass er ein Brückenbauer, ein Pontifex, sein will. Diesen Titel, der ursprünglich den römischen Kaisern gehörte, beanspruchte Leo der Grosse für sich. Brücken bauen, lautet also das Programm – nicht Mauern und Festungen, wie es ein anderer Namensvetter, Leo IV., tat. Dessen «Leoninische Mauer» aus dem 9. Jahrhundert prägt noch heute das Stadtbild und trennt die «Leostadt» vom übrigen Rom.
Viele hoffen auf eine Kontinuität mit Papst Franziskus. Wer weiss, ob sich Robert Francis Prevost bei seiner Namenswahl nicht auch von Bruder Leo, dem engen Freund und Weggefährten des heiligen Franz von Assisi, inspirieren liess? Eine «franziskanische» Kontinuität zwischen den beiden Päpsten wäre bedeutsam – und tröstlich. Vielleicht ist die Freundschaft zwischen Francesco und Leone ein weiteres kleines Hoffnungszeichen dieses geschichtsträchtigen römischen Abends.
Dieser Artikel ist zuerst auf feinschwarz.net erschienen
* Dr. des. Simone Parise, geboren 1989 in Aarau, studierte Theologie in Luzern und Padua. In seiner Dissertation erforschte er die Geschichte der italienischen Migrationsseelsorge in der Schweiz (19. bis frühes 20. Jh.). Er arbeitet als Seelsorger in einer Stadtpfarrei in Luzern.