
«SRF-Rundschau» über Missbrauch: Was ist mit dem Staat?
Die «Rundschau» hat einen Missbrauchsskandal aufgedeckt. Die kirchlichen Vertreter bekennen Schuld. Die staatlichen weichen aus. Das wirft Fragen auf. Eine einordnende Analyse.
Annalena Müller
Heute wissen wir, dass es in der Kirche Strukturen gibt, «die sie als Täterorganisation prädestinieren, weil Leute, die solche Verbrechen begehen, einen idealen Rahmen vorgefunden haben, weil sie geschützt wurden.» Peter von Sury, ehemaliger Abt des Klosters Mariastein (SO), findet deutliche Worte im Gespräch mit der SRF-Rundschau, das am 16. April ausgestrahlt wurde.
Stellt sich dem Thema: Peter von Sury
Von Sury stellte sich einem Gespräch, bei dem von vorneherein klar war, dass er nur verlieren kann. Er steht Rede und Antwort, bekennt Schuld und bittet Betroffene um Entschuldigung. Er verweist kleinlaut, aber einigermassen glaubhaft, auf den Lernprozess, den der 75-Jährige in den Jahren der missbrauchsbedingten Dauerkrise durchlaufen habe.
Stellt sich den Fragen der «SRF-Rundschau»: Alt-Abt Peter von Sury
Dem gegenüber steht der Bildungsdirektor des Kantons Uri, Georg Simmen. Er hat – nach allem, was wir wissen– ebenso wenig persönliche Schuld auf sich geladen wie von Sury. Aber auch er spricht in der «Rundschau» für eine Institution, die sich schuldig gemacht hat. Die weggeschaut hat, obwohl sie über Missbräuche durch mehrere Patres im Internat in Altdorf (UR) informiert war. Entschuldigen möchte Simmen sich nicht.
Keine Entschuldigung der Schulbehörde
Man habe begonnen, die Akten zu sichten. «Selbstverständlich, wenn sich das erhärtet und wenn es noch andere Fälle gibt – , dann bin ich offen, dass man da auch eine öffentliche Entschuldigung macht. Das wollen wir nicht von der Hand weisen, dass das allenfalls nötig sein kann», sagt Simmen umständlich in die Kamera.
Die «SRF-Rundschau» hat Missbräuche durch Mönche im Kollegium Karl Borromäus (UR) in den 1960er und 70er Jahren aufgedeckt.
Die «Rundschau» vom 16. April hat Missbrauchsfälle in einem katholischen Internat im Kanton Uri ab den 1960er Jahren aufgedeckt. Das Internat wurde damals von Mönchen des Klosters Mariastein geleitet.
Missbrauchsbetroffene erzählen erstmals
Einer der Missbrauchsbetroffenen ist Benedikt Hänggi. Als Jugendlicher wurde während zwei Jahren immer wieder von einem Pater vergewaltigt. Hänggi hat nicht mit der Kirche gebrochen. Er ist Diakon im Kanton Basel-Landschaft. «Die Kirche als Ganzes kann nichts für den Missbrauch durch eine Einzelperson. Kirche bedeutet Menschen», sagt er. Aber der Diakon nimmt die Verantwortungsträger in die Pflicht: «Priester, Bischöfe, Kardinäle bis hin zum Papst», wer heute noch vertuscht, wer verharmlost, ist laut Hänggi Mittäter.

Die Recherchen von SRF sind aus kirchlicher Perspektive schmerzhaft, aber wichtig. Sie zeigen nicht «nur» einen weiteren historischen Fall in einer weiteren katholischen Schule. Die mediale Thematisierung ist essenziell für den noch immer andauernden Erkenntnisprozess: Missbrauch wird zwar von Individuen begangen, aber er wird oft strukturell begünstigt.
Schritt für Schritt setzt sich diese Erkenntnis bei Verantwortungsträgern in der Kirche durch. Alt-Abt Peter von Sury ist ein Beispiel dafür. Dass sie sich noch lange nicht überall durchgesetzt hat, kann man dieser Tage in St. Maurice sehen. So lange der Prozess andauert, so lange wird es Recherchen der «Vierten Gewalt» brauchen.
Das Bild der «bösen Kirche» ist zu einfach
Dennoch folgt hier ein «Aber»: Sowohl Journalist:innen als auch Gesellschaft machen es sich zu leicht, wenn sie die Kirche als Täterorganisation darstellen, bei der «der Lack ab» sei (so eine SRF-Schlagzeile vor einigen Wochen). Es ist menschlich, sich mit einem «Schurken»-Bild zufrieden zu geben, wenn man es einmal hat. Dann muss man keine weiteren Fragen stellen – und keine eventuell unangenehmen Antworten hören.

Zu den unangenehmen Antworten, die wir alle hören müssen, gehört unter anderem diese: Kirchliche Strukturen existieren und existierten nie losgelöst von der Gesellschaft.
Konkret: Nicht nur die Verantwortlichen in Mariastein, die damals das Internat in Altdorf betrieben, haben weggeschaut. Sondern auch die örtliche Regierung. Auch das zeigt die SRF-Dokumentation – wenn auch nur am Rande. Die Missbrauchsfälle waren den Behörden – kirchlich wie weltlich – bekannt. Mehrere Eltern hatten sie dort angezeigt. Die Reaktion der damals Verantwortlichen: verharmlosen und vertuschen.
Eindeutige Aktenlage
Die Aktenlage ist laut SRF eindeutig. Auch der Urner Bildungsdirektor Georg Simmen streitet das nicht ab. Dass er sich dennoch nicht zu einer Entschuldigung im Namen seiner Behörde durchringen kann, lässt tief blicken. Und es weist auf eine weitere Baustelle bei der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen hin.
Dass Gesellschaft und Politik auch in der Verantwortung stehen, hat bereits die Pilotstudie der Uni Zürich 2023 ausgewiesen. Dass sie sich dieser Verantwortung nur zögerlich stellen wollen, zeigt die Reaktion der Urner Bildungsdirektion exemplarisch.
Nun geht es nicht darum, das zu betreiben, was man neudeutsch «whataboutism» nennt. Also auf andere zeigen, um von der eigentlichen Problematik abzulenken. Die Schuld, die die Kirche auf sich geladen hat, ist klar. Peter von Sury benennt diese schonungslos, wenn er von der Notwendigkeit einer «Grundbodensanierung» spricht.
Innerkirchlichen Aufarbeitungsstrukturen beginnen zu funktionieren
Und doch zeigt der Fall in Uri/Mariastein: Die innerkirchlichen Aufarbeitungsstrukturen funktionieren immer besser – zumindest, wenn die Täter tot sind und keine personellen Konsequenzen drohen.
Der Betroffene Benedikt Hänggi hat vor eineinhalb Jahren seinen Fall den zuständigen Bistümern Chur (zu dem Uri gehört) und Basel (Mariastein) gemeldet. Das Fachgremium der Genugtuungskommission hat seinen Fall bearbeitet, ihn als schwerwiegend anerkannt und eine Genugtuung ausgezahlt. Die internen Abläufe, mit denen die hiesige Kirche auf die Missbrauchskrise reagiert, beginnen zu greifen. Ohne Frage zu spät und noch immer nicht flächendeckend, aber immerhin.
Staatliche Strukturen weichen aus
Anders sieht es bei den staatlichen Behörden aus. Jedes katholische Internat, jedes Heim unterstand nicht allein einem Kloster. Auch früher gab es bereits Schulbehörden. Und die sogenannten fürsorgerischen Zwangsmassnahmen waren in erster Linie staatlich organisiert. Um Missbrauch, besonders an Schutzbefohlenen, zu verhindern, muss man die Strukturen verstehen, die ihn begünstigen. In Kirche und Gesellschaft.

Die katholische Kirche hat – nach langem Ringen und vielen internen Widerständen – eine umfassende Aufarbeitung in Auftrag gegeben. Die Pilotergebnisse wurden 2023 veröffentlicht. Die finale Studie erscheint 2027.
Und der Staat? Der sieht kaum Notwendigkeit, seine Rolle in den Missbräuchen im Umfeld der Kirche zu hinterfragen. Der Frage des SRF-Reporters, ob der Kanton Uri eine Untersuchung zur Aufarbeitung plane, weicht Bildungsdirektor Simmen aus. Erst am Folgetag der Ausstrahlung gibt die Urner Regierung bekannt, dass man eine Arbeitsgruppe gegründet habe und die Geschehnisse nun aufarbeiten wolle.
Und auf nationaler Ebene? Der Bundesrat hat in der Frühjahrssession 2025 die Anfrage der St. Galler Nationalrätin Susanne Vincenz-Stauffacher (FDP) abgelehnt. Sie hatte der Schweizer Regierung eine Dunkelfeldstudie vorgeschlagen, um Missbrauchsstrukturen zu erforschen und einen besseren Schutz zu gewährleisten. Der Bundesrat hält eine Studie in der vorgeschlagenen Reichweite für unnötig.
*Aktualisiert am 17.4.2025 um 17:25. Die Information, dass die Urner Regierung Aufarbeitung leisten will, wurde hinzugefügt. Diese Information wurde erst nach Veröffentlichung des Ursprungsartikels bekannt.
Dieser Text ist eine Analyse. Analysen sind eine Form des Kommentars und geben persönliche Einschätzung wieder.
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