
Sieht sich als eigentliches Opfer: Der Abt von St. Maurice Foto: Bernard Hallet
Abt von St. Maurice sieht sich als Opfer
Der Abt von St. Maurice legt seine Sicht der Dinge dar. Er sieht sich als Opfer einer Medienkampagne. Die Rüge aus Rom interpretiert er als Freispruch und auch manch anderes deutet er um.
Annalena Müller
Der Abt von St. Maurice hat der Westschweizer Zeitung «Le Nouvelliste» ein ausführliches Interview gegeben. Die Rüge aus Rom? Keine. Die Irritation der RKZ über seine Rückkehr ins Amt? Hochmut. Die Vorwürfe gegen die Abtei? Eine Medienkampagne. Er selbst? Unschuldig und reinen Gewissens. Das Interview wirkt wie eine Inszenierung als Opfer weltlicher Gewalten – kaum zufällig in der Karwoche veröffentlicht.
Sein Kreuz tragen
Nach Belästigungsvorwürfen war Abt Jean Scarcella insgesamt 18 Monate in den Ausstand getreten. Es gab eine juristische und eine kanonische Voruntersuchung. Für den Abt war diese Zeit eine Phase der Prüfung, die «psychisch und körperlich schwer auszuhalten» gewesen sei. «Auch wenn ich tief in mir keine Zweifel an ihrem Urteil hatte, war die Rehabilitierung eine Erleichterung.»
Die Stimmung in der Abtei, in der es Vorwürfe gegen insgesamt sechs noch lebende Chorherren gibt, beschreibt der Abt als «ruhig und gelassen». Die Einheit sei erhalten geblieben. Im Laufe des Frühjahrs werde das Kapitel auch wieder einen Prior wählen. Der letzte, Roland Jacquenoud, hatte – ebenfalls wegen Missbrauchsvorwürfen – zurücktreten müssen. Ob sich Jacquenoud zur Wahl stellen wird, sagt der Abt im Interview nicht.
Opfer der Medien
Zwei Dinge hatten im Herbst 2023 zur Erschütterung der altehrwürdigen Abtei geführt: Ein Brief des Berner Pfarrers Nicolas Betticher, in dem dieser hochrangige Westschweizer Kleriker wegen Missbrauchsvertuschung im Vatikan anzeigte. Und die Sendung «Mise au Point» des Westschweizer Fernsehens «RTS», in der Vorwürfe gegen mehrere Chorherren aus St. Maurice öffentlich gemacht wurden.

Für den Abt war «die Sendung darauf angelegt, die Abtei zu diskreditieren». Sensation sei nun mal «Teil des Mediengeschäfts». Aber: «Für uns drei, die in der Sendung exemplarisch dargestellt wurden, war das extrem hart.»
Als ebenso hart empfindet Scarcella das Einschreiten der Walliser Behörden. Diese hatten aufgrund der Vorwürfe und der mangelnden Einsicht seitens der Abteiführung die Leitung des Collège Saint-Maurice übernommen. Scarcella sagt dazu im Interview: «Es war enttäuschend, wie abrupt diese Entscheidung kam – offensichtlich unter dem Eindruck der RTS-Sendung. Wir hatten immer eine ehrliche, enge Zusammenarbeit mit den Behörden. Die abrupte Kehrtwende war schwer zu verkraften.» Schuld sind in St. Maurice nur die anderen.
Hochmut der RKZ
Kein Verständnis hat Abt Scarcella auch für die Kritik, die ihm nach seiner Rückkehr ins Amt Anfang März entgegenschlug. Besonders die klaren Worte der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz (RKZ), des Dachverbands der Landeskirchen, stiessen dem Abt sauer auf. «Warum die Rücktrittsforderung durch die RKZ? Bedeutet das, dass sie sich über die Staatsanwaltschaft stellt? Muss jemand trotz Rehabilitierung gehen? Das widerspricht meinem Verständnis von Gerechtigkeit.»
Schliesslich seien alle Zweifel an ihm «durch die zivil- und kirchenrechtlichen Verfahren ausgeräumt» worden. Seine Rückkehr ins Amt sei daher naheliegend gewesen. Die RKZ wollte sich am Dienstagmorgen nicht äussern.

Die Rüge aus Rom deutet der Abt als Freispruch – oder genauer: als eine Besonderheit des Kirchenrechts, die man ausserhalb der Kirche nicht verstehe. Seine Rüge sei «eine präventive Massnahme. Die Kirche sagt damit: Auch wenn kein Fehler festgestellt wurde, darf sich ein solcher nicht wiederholen.»
Umdeutung des Kirchenrechts
Es ist eine mehr als eigenwillige Interpretation. Als im Oktober 2024 die vatikanischen Rügen gegen den Abt von St. Maurice sowie gegen die Bischöfe von Sitten und Lausanne, Genf und Freiburg publik wurden, hatte das «pfarrblatt» bei Kirchenrechtlern nachgefragt. Diese bestätigten, dass eine kanonische Rüge in etwa mit einer Abmahnung im Schweizer Arbeitsrecht vergleichbar sei.
Rom kennt – vereinfacht gesagt – drei Reaktionen auf kanonische Voruntersuchungen: Freispruch, Rüge oder Amtsenthebung. Eine Rüge wird nach Einschätzung von Kirchenrechtlern vom zuständigen Dikasterium nicht leichtfertig ausgesprochen, sondern nur dann, wenn etwas Erhebliches vorgefallen ist. Das zeigen verschiedene Fälle aus der Vergangenheit, in denen Rom trotz aufwendiger Voruntersuchungen keine Rüge aussprach.
Verschrobene Wahrnehmung
Im Interview mit «Le Nouvelliste» stilisiert Scarcella sich und die Abtei als Opfer – eine Wahrnehmung, die von aussen kaum nachvollziehbar ist, aber sehr gut in die Karwoche passt. St. Maurice wird zum Opfer einer selbstherrlich agierenden Öffentlichkeit – Medien und RKZ. Abt und Abtei tragen dabei ihr Kreuz «demütig» (das Wort verwendet der Abt mehrfach) im Angesicht der Tortur, die sie erleben.
Unerwähnt im Interview bleibt, dass nicht nur die RKZ, sondern auch die Schweizer Bischofskonferenz (SBK) öffentlich und ungewöhnlich scharf auf Scarcellas Rückkehr reagierten. Der Abt von St. Maurice ist qua Amt Mitglied der SBK. Mit offenen Armen wird er dort aber nicht empfangen. Zu bewusst dürften sich seine Mitbrüder sein, welchen zusätzlichen Schaden der Abt der ohnehin ramponierten Glaubwürdigkeit der Schweizer Kirche zufügt.
Geradezu höhnisch wirkt vor diesem Hintergrund Scarcellas Vorschlag, wie die Kirche mit der grössten Krise ihrer Existenz umgehen solle: «Sie muss demütig und verantwortungsbewusst sein. Sie muss die Krise benennen, Täter bestrafen, Missstände offenlegen. Die Kirche darf die dunklen Kapitel nicht verdrängen und muss mit der Geheimhaltung brechen. Unsere neuen Richtlinien sind klar.» Man möchte hinzufügen: Aber die Richtlinien gelten nur für andere.