Abt Jean Scarcella erklärt sich für rehabilitiert. Kirchenrechtsprofessorin Astrid Kaptijn widerspricht. Fotos: STEMUTZ.COM und Abtei St. Maurice

Kirchenrechtlerin widerspricht Abt von St. Maurice: kanonische Rüge ist kein Freispruch

Jean Scarcella sieht sich als reingewaschen. Kirchenrechtlerin Astrid Kaptijn widerspricht: Grundlage für eine Rüge ist «rechtwidriges Verhalten», das bei Wiederholung zur Amtsenthebung führen kann.

 

Annalena Müller

In einem Interview mit der Westschweizer Zeitung «Le Nouvelliste» hat Abt Jean Scarcella eine eigenwillige Interpretation der Skandale gegeben, die seine Abtei seit Herbst 2023 erschüttern. Nach Belästigungsvorwürfen war der Abt 18 Monate in den Ausstand getreten. Es gab eine juristische und eine kanonische Voruntersuchung. Letztere führte zu einer Rüge des Vatikans.

Dennoch kehrte Scarcella Anfang März in sein Amt zurück – trotz Protesten der RKZ, SBK und von Betroffenenverbänden. Im Interview mit «Le Nouvelliste» stilisiert sich der Abt als Opfer einer Medienkampagne. Sich selbst sieht er als rehabilitiert: Alle Zweifel an ihm seien «durch die zivil- und kirchenrechtlichen Verfahren ausgeräumt» worden. Die kanonische Rüge des Vatikans interpretiert der Abt als Freispruch. 

Die Kirchenrechtsprofessorin Astrid Kaptijn widerspricht: Eine kanonische Rüge sei keineswegs ein Freispruch. Damit sie ausgesprochen werde, müsse «rechtswidriges Verhalten» vorliegen. Sollte die gerügte Person ihr Fehlverhalten wiederholen, könnte die Rüge Grundlage für eine Amtsenthebung sein.

«pfarrblatt»: Was ist eine kanonische Rüge, Frau Kaptijn?

Astrid Kaptijn*: Eine kanonische Rüge ist ein sogenanntes Strafsicherungsmittel. Das kirchliche Recht kennt mehrere Formen solcher Mittel. Zwei davon sind sich recht ähnlich, unterscheiden sich aber in ihrer Schwere. Einerseits gibt es die monitio, zu Deutsch etwa: Verwarnung. Anderseits die correptio, einen Verweis oder Tadel, der aber nicht mit der correctio zu verwechseln ist.

Wo liegen die Unterschiede?

Kaptijn: Eine Verwarnung soll eine Person, die möglicherweise im Begriff steht, eine Straftat zu begehen, davon abzuhalten. Es kann aber auch sein, dass damit eine Person verwarnt werden soll, wenn nach einer Voruntersuchung nicht sicher ist, ob sie straffällig geworden ist, aber ein dringender Verdacht bestehen geblieben ist. Hier hat die Verwarnung eine vorbeugende Funktion.

Und der Verweis?

Kaptijn: Der Verweis ist eine strengere Form der Verwarnung. Bei einem Verweis wird das Verhalten einer Person ausdrücklich missbilligt – unabhängig davon, ob es sich um eine Straftat handelt. Das Verhalten, das zu einem Verweis führt, ist zwar kirchenrechtlich nicht strafbar, aber es ist rechtswidrig und könnte zur Nachahmung einladen.

Hat der Vatikan dem Abt von St. Maurice eine Verwarnung oder einen Verweis erteilt?

Kaptijn: Abt Scarcella verwendet im Interview mit «Le Nouvelliste» beide Begriffe synonym, obwohl sie es nicht sind. Das Originalschreiben des Dikasteriums hat die Abtei nie veröffentlicht. Aber gemäss der Pressemitteilung der Abtei vom 18. Oktober 2024 handelt es jedoch um einen Verweis.

Also den strengeren Tadel?

Kaptijn: Genau.

 

Mit anderen Worten: Die Interpretation von Abt Scarcella, der die Rüge des Vatikans im Interview als Freispruch darstellt, ist falsch…

Kaptijn: Eine kanonische Rüge ist kein Freispruch. Das Verhalten wird als moralisch unangemessen und sogar als rechtswidrig qualifiziert. Ein Verweis ist kirchenrechtlich so relevant, dass er im Geheimarchiv aufbewahrt werden muss. Sollte es zu einer Wiederholung des Fehlverhaltens kommen, ist der Verweis ein gewichtiger Faktor, der zu strengeren Massnahmen führen kann.

In einem Hintergrundgespräch hat ein Kollege von Ihnen die kanonische Rüge mit einer Abmahnung im Schweizer Arbeitsrecht vergleichen. Stimmen Sie dem zu? 

Kaptijn: Solche Vergleiche sind schwierig, weil unterschiedliche Begriffe verwendet werden, die sich nicht eindeutig voneinander abzugrenzen lassen. «Abmahnung», «Verwarnung» und «Verweis» werden oft gleichgesetzt. Es geht dabei normalerweise um die erste Stufe disziplinarischer Massnahmen, die im Wiederholungsfall arbeitsrechtliche Konsequenzen bis hin zur Kündigung nach sich ziehen können. Meiner Meinung nach ist es wenig sinnvoll, die beiden Rechtssysteme miteinander zu vergleichen, weil die Begriffe nicht deckungsgleich sind. Sie sollten daher nur im Rahmen des eigenen Rechtssystems genutzt werden.  

In der Abtei St. Maurice, in der es Vorwürfe gegen mehrere Chorherren gibt, scheint sich die Leitung immer wieder hinter juristischen Argumenten zu verstecken. Sind die Rechtssysteme, weltlich wie kirchlich, überhaupt geeignet, um Missbrauch effektiv zu bekämpfen und Verantwortungsträger zur Rechenschaft zu ziehen?

Kaptijn: Beide Systeme kennen den Mangel an klaren Begrifflichkeiten. Wenn eine Staatsanwaltschaft «das Verfahren einstellt», kann es zwei Sachen bedeuten: Entweder es gab keine Straftat, die Strafverfolgung erfordert. Oder eine Strafverfolgung ist nicht mehr möglich, weil sie verjährt ist. Dass solche Zweideutigkeiten in der Kommunikation genutzt werden, Entscheidungen im eigenen Sinne zu deuten, verwundert nicht- auch wenn es sehr zu bedauern ist. In beiden Rechtssystemen, dem weltlichen und kirchlichen, stossen wir an Grenzen, die mit der Natur des Rechts zu tun haben.

*Astrid Kaptijn ist seit 2010 Professorin für kanonisches Recht an der Universität Freiburg i.Ü.