Annegret Schär hört bei der katholischen Kirche nicht nur Worte, sondern sieht auch Taten. Foto: zVg

Annegret Schär: «Missbrauchsprävention ist Knochenarbeit»

Die Bernerin Annegret Schär (55) arbeitet ab Januar bei der Nationalen Dienststelle Missbrauch im kirchlichen Kontext. Die Tochter eines reformierten Pfarrers hört von der katholischen Kirche nicht nur Worte, sondern sieht in der Missbrauchsprävention auch Taten.

 

Interview: Sylvia Stam

«pfarrblatt»: Frau Schär, Sie arbeiten ab Januar bei der «Nationalen Dienststelle Missbrauch im kirchlichen Kontext». Welche Qualifikationen bringen Sie mit für diese Stelle?

Annegret Schär*: Ich habe auch bisher in der Prävention gearbeitet. Im Rahmen meiner Tätigkeiten in dem Bereich hatte ich sowohl mit Täter:innen- als auch mit Opfern zu tun. Im Justizvollzug war ich als Fallverantwortliche in Vollzugsanstalten, in der elektronischen Überwachung und in der Bewährungshilfe tätig. Ich habe einschlägig verurteilte Täter:innen begleitet, dabei gingt es um Therapie, Resozialisation und Kontrolle. 

Sie waren zuletzt Schulsozialarbeiterin in Zollikofen. 

Schär: In dieser Funktion habe ich Betroffene und ihre Familien begleitet und beraten. Hier habe ich sehr eindrücklich erlebt, dass nicht nur die direkt betroffene Person leidet, sondern das ganze Familiensystem und auch das weitere Umfeld. 

Was für eine Ausbildung haben Sie gemacht für diese vielfältigen Tätigkeiten?

Schär: Vieles war «learning by doing». Im Strafvollzug beispielsweise habe ich entsprechende Weiterbildungen gemacht in den Bereichen Justizwissen, Deliktbearbeitung und therapeutisches Wissen. 

Ab Januar steigen Sie mit 50 Prozent bei der Dienststelle ein (siehe Infobox). Was sind konkret Ihre Aufgaben?

Schär: Die konkrete Aufgabenteilung ist noch in Diskussion. Nationale Vorhaben sind grundsätzlich sehr komplex, weil die Schweiz föderalistisch geprägt ist und die drei Sprachregionen je anders aufgestellt sind. Ich hoffe, dass wir die Betroffenenorganisationen als externe Referenzgruppe stark in die Umsetzung einbinden können.  

Wie Sie sagen: Das Aufgabenpaket ist gross und die nationale Ebene komplex. Reichen 50 Prozente dazu?

Schär: (lacht) Das werden wir sehen. In den beteiligten Gremien sind zum Glück viele Fachleute tätig. Aber ich bin mir bewusst, dass es viel Feinarbeit braucht. Es wird sicher steil!  

 

Sie sind im kirchlichen Kontext bislang nicht bekannt. Weshalb haben Sie sich auf diese Stelle beworben?

Schär: Ich habe bei der katholischen Kirche den Eindruck, dass man nicht nur redet, sondern auch handelt. Ich höre nicht nur Worte, sondern sehe auch Taten. Ich messe grundsätzlich an den Taten: Was passiert tatsächlich und welche Wirkung hat das? Wenn man die katholische Kirche in der Missbrauchsbekämpfung etwa mit dem sozialen Bereich oder mit Gesundheitsinstitutionen vergleicht, ist sie sehr gut aufgestellt. Ich habe den Eindruck, dass die katholische Kirche eine lernende Organisation ist, die eine Fehlerkultur entwickelt. 

Was für Taten sehen Sie denn?

Schär: Ich sehe die Massnahmen, die nach der Publikation der Missbrauchsstudie aufgestellt wurden, und wie sie gefüllt werden: Es gibt eine Zusammenarbeit mit den kantonalen Opferhilfestellen. Bei der Führung von Personaldossiers lässt sich die Nationale Arbeitsgruppe Missbrauch im kirchlichen Kontext von externen Fachleuten beraten, um diese zu professionalisieren.  

A propos: Letzte Woche machten Medien publik, dass ein Priester im Februar 2023 im Bistum Chur eingestellt wurde, obschon er im Bistum Basel im Jahr zuvor wegen Körperverletzung entlassen worden war. In Chur wusste man nichts vom laufenden Strafverfahren. Wo sind hier die Taten? 

Schär: Zu diesem konkreten Fall kann ich nicht Stellung nehmen. Aber offensichtlich greifen die Massnahmen noch nicht. Es genügt tatsächlich nicht, im Überbau Leitlinien zu erstellen und diese zu verschicken. Die Botschaft und die Bereitschaft zur Umsetzung müssen auch zuunterst ankommen. Die Menschen müssen umlernen. Das ist eine Frage der Führung: Sie muss die Mitarbeitenden sensibilisieren und darin schulen, dass bestimmte Abläufe nun vielleicht anders laufen als bisher. Das braucht manchmal einen gewissen Druck. Schliesslich muss die Umsetzung auch kontrolliert werden. Das alles ist Knochenarbeit. Das von Ihnen genannte Beispiel zeigt, wo es noch hapert. Umso wichtiger ist es, dies aufzuarbeiten und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. 

Worin besteht die Besonderheit der Missbrauchsprävention im katholischen Kontext?

Schär: Die Missbrauchsthematik ist an sich sehr komplex: Die Vorwürfe sind oft schwer einzuschätzen, wenn man sie nicht selbst beobachtet hat. Sie müssen sorgfältig dokumentiert werden, was in der Vergangenheit oft nicht der Fall war. Den kirchlichen Kontext prägt zudem eine hierarchische Struktur von Macht und Unantastbarkeit. Es geht um Respektpersonen und Würdenträger. Dadurch wird ein an sich komplexe Situation noch herausfordernder.

Wo sehen Sie aktuell die grössten Baustellen in der Prävention von Missbrauch in der katholischen Kirche?

Schär: Dass man die Massnahmen wirklich auf den Boden bringt, dorthin, wo sie umgesetzt werden müssen. Damit das gelingt, muss eine Kultur des gemeinsamen Lernens entwickelt werden. Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass das System selbstreferentiell ist: Das System Kirche evaluiert und verbessert sich selbst. Qualitätsmanagement könnte heissen, sich extern überprüfen zu lassen.  Als Drittes: Missbrauchsprävention ist ein Dauerthema. Selbst wenn man alle bestens geschult hat, kommen immer wieder neue Herausforderungen auf Gesellschaft und Kirche zu. Es ist eine Daueraufgabe für die Führung, die Massnahmen hier laufend anzupassen.

*Annegret Schär (55) hat einen Bachelor in Primary Education (Primarschullehrerin) und einen Fachhochschulabschluss in Sozialarbeit. Weiterbildungen u.a. als Praxisausbildnerin, in Systemischer Interaktionsberatung, Leitung von kognitiv-verhaltenstherapeutischen Lernprogrammen für Erwachsene und für Jugendliche, CAS in Rückfallprävention. Sie ist Aktivmitglied in einem traumatherapeutischen Online-Zirkel. Die reformierte Pfarrerstochter ist heute konfessionslos. 

 

Aufgaben der «Nationalen Dienststelle Missbrauch im kirchlichen Kontext» sind gemäss Stellenausschreibung:  Fachliche und Strategische Beratung der Entscheidungsträger (SBK, RKZ, KOVOS) bei nationalen Aufarbeitungs- und Präventionsprojekten, Projektleitung von Massnahmen in den Bereichen Prävention und Intervention auf nationaler Ebene, Koordination und nationale Vernetzung mit Fachgremien, Betroffenenorganisationen und Präventionsstellen, Öffentlichkeits- und Medienarbeit im Bereich der Missbrauchsthematik, Fachbeiträge und Weiterbildungen im Bereich des sexuellen und spirituellen Machtmissbrauchs im religiösen Kontext. Leiter der Dienststelle ist Stefan Loppacher (70 Prozent). Nebst Annegret Schär (50 Prozent) wird Mari Carmen Avila (20 Prozent) mitarbeiten.