
Thomas Boutellier fordert Mut zum Aussenblick. Foto: Vera Rüttimann
Interventionsexperte Thomas Boutellier fordert Mut zum Aussenblick
Er hat die Präventions- und Interventionskonzepte der Schweizer Pfadi mitentwickelt. Die Auseinandersetzung mit Missbrauch in der katholischen Kirche sei selbstreferenziell. Für echte Fortschritte brauche es Aussenperspektiven, schreibt Thomas Boutellier in seinem Gastkommentar.
Thomas Boutellier*
Der Aufschrei war gross, als im September 2023 die Pilotstudie zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche veröffentlicht wurde. Bis heute fragen wir uns: Warum haben uns die Funde überrascht? Jede und jeder von uns kennt jemanden, der jemanden kennt, der oder die ...
Wir bewerten die Standards, die wir selbst gesetzt haben
Ende November wurde beim Verband «Krisenkommunikation» das Thema «Üben und bewertet werden.» diskutiert. Dabei ging es unter anderem um das Problem, dass wir selbst Übungsteilnehmende und gleichzeig die Experten sind, die eine solche Übung beobachten.
Das Schlüsselwort hier ist Selbstreferenzierung. Da wir von der kirchlichen Krisenkommunikation und Prävention selbst die Standards definiert haben, was gute und schlechte Arbeit ist, können wir «Experten» gar nicht anders, als diese Arbeit und die Ergebnisse gut finden. Zumindest dann, wenn keine haarsträubenden Fehler gemacht werden. Anders sähe es aus, wenn uns Fachleuten beurteilten, die einen anderen Blickwinkel haben und nicht im gleichen Glashaus sitzen.
Selbstreferenzierung als Schwachpunkt
Wir wissen, dass Organisationen, die sich von Fachleuten aus anderen, auch gerade fachfremden Bereichen beurteilen lassen, die Qualität ihrer Arbeit kontinuierlich und tatsächlich verbessern. Wenn die Outdoorfirma Regenkleidung produziert, deren Produktion klimaschädlich ist, hat sie zwei Möglichkeiten: Sie sagt, dass stimme alles nicht, wir halten eigene, strenge Regeln ein, oder sie setzt sich mit dem WWF an den Tisch und lässt sich an deren Regeln messen.
Diejenigen, die in der eigenen Blase und damit in der Selbstreferenz verharren, stagnieren. Und das bedeutet nichts anderes als Rückschritt. Mutiger ist es, die vermeintlichen Gegner ins Boot zu holen. Softwarefirmen haben das verstanden und beschäftigen Hacker, um Schwachstellen zu finden. Gegner der katholischen Kirche zu finden, sollte dieser Tage nicht so schwer sein.
Kirche bewertet Kirche
Wenn man beim Thema Missbrauch schaut, wer die Interventions- und Präventionsarbeit der katholischen Kirche bewertet, dann stellt man fest: Die meisten Medien ausserhalb der Blase übernehmen Informationen und Texte, die in und für die Blase geschrieben wurden. So waren auch der Grossteil der Medienartikel rund um die Pilotstudie mehr oder weniger, genau das, was vorgelegt wurde. Nur selten wird darüber hinaus recherchiert.

Das liegt zweifellos daran, dass das Thema an sich schwierig ist. Und dass die wenigsten «säkularen Medien» heute noch die Strukturen der katholischen Kirche kennen, geschweige denn verstehen. Also stützt man sich auf die Aussagen der immergleichen Fachleute, die sich auf ‘Kirche - Missbrauch – Prävention’ spezialisiert haben. Schaut man aber näher hin, woher diese ihr Wissen haben, stellt man fest: Von der Institution, bei der sie angestellt sind oder waren. Sie bewerten also die Arbeit der Prävention, der Intervention, der Kommunikation mit dem Blick des Insiders – eben selbstrefernziell.
Wen ins Boot holen?
Um nicht falsch verstanden zu werden: Das System muss zum Teil so funktionieren. Und wir als Kirche können froh sein, dass wir interne Expert:innen haben, zu denen ich mich ja selbst zähle. Aber es reicht nicht, sich damit zufrieden zu geben. Wenn wir aus der Stagnation kommen wollen, brauchen wir den kritischen Aussenblick.
Wie Ölkonzerne, die Umweltorganisationen ins Boot holen, um sich bei der Umsetzung und Kommunikation beraten und evaluieren zu lassen, stellt sich die Frage nach möglichen Partnern für die katholische Kirche.
Sicher, sich an eine Agentur zu wenden, ist State of the Art. Aber haben wir den Mut, unsere Massnahmen von den Betroffenenorganisationen oder sogar den «Freidenkern» überprüfen zu lassen? Oder noch besser, sie ins Boot zu holen und damit auf die Selbstreferenzierung zu verzichten? Voraussetzung wäre die Überzeugung, dass wir gute Arbeit leisten, eine Arbeit, die wir gerne und immer wieder evaluieren lassen.
Für mich spricht nichts dagegen. Wenn wir so gut sind, wie wir glauben, dann brauchen wir keine Angst zu haben. Wir, die katholische Kirche in der Schweiz, haben im letzten Jahr riesige Schritte gemacht, das bestätigen uns alle Experten, wir können ohne Angst nach Bezugspunkten ausserhalb unserer Blase suchen.
Und auch, wenn es verpönt ist, sich selbst zu loben. Es ist tatsächlich so, dass die Kirche in ganz vielen Punkten besser ist als die meisten Organisationen, die mit und für Menschen arbeiten. Sich darauf auszuruhen wäre aber völlig falsch, gut zu sein und zu bleiben hilft den Opfern nicht. Wir müssen besser sein wollen. Und dazu müssen wir unseren eigenen Referenzrahmen verlassen.
*Thomas Boutellier ist Experte für Krisenkommunikation und Missbrauchsintervention. Er ist der Informationsbeauftragter des Generalvikariats für Kantone Zürich und Glarus Daneben ist er in der Aus- und Weiterbildung für Intervention und Prävention tätig.