
Ob wir es wollen oder nicht: Armut ist unübersehbar. Foto: unsplash
Zum Tag der Arbeit: Was Arbeit mit Armut zu tun hat
Gedanken von Pfarrblattleser Sandro Fischli zum Zusammenhang zwischen Armut und Arbeit und zur Stigmatisierung und Diskriminierung der Armen.
Armut hängt mit Arbeit zusammen, mit fehlender, schlecht bezahlter, erzwungener Arbeit. Warum wird Armut stigmatisiert und diskriminiert? Hier meine Gedanken dazu:
In der Bibel ist viel von Armen die Rede, ihnen nicht mit Geringschätzung zu begegnen, sie nicht zu missachten, nicht aus dem Blick zu verdrängen, mit ihnen zu teilen. Es waren nahezu alles arbeitslose Witwen und Waisen, Tagelöhner, Knechte. Eine Verachtung oder Diskriminierung der Armen ist nicht explizit herauszulesen.
In der Geschichte des Christentums galt bis ins Spätmittelalter die Unterscheidung zwischen «Pauperi in Petro» und «Pauperi in Lazaro», zwischen freiwillig geistlich Armen und unfreiwillig weltlich Armen. Letztere hatten eine gewisse gesellschaftliche Legitimitation, da an ihnen für das eigene Seelenheil gute Werke vollzogen werden konnten. Gut ging es den Armen nie, aber sie waren geduldet. Mit der Reformation hatte dann aber die Werkfrömmigkeit ausgedient und die Armen - nun nicht mehr nötig - wurden lästig. Die ersten Bettlerjagden fanden statt und es gibt durchaus gewisse Ähnlichkeiten zur Hexenverfolgung: eine Bettlerin abzuweisen, generierte doch immer noch ein gewisses Schuldgefühl, so dass dann das allfällige kranke Tier im Stall schnell den Hexenkünsten der Bettlerin zugeordnet wurden. Armut wurde so zusätzlich bestraft.

Durch die Missernten in der sogenannten «kleinen Eiszeit» Ende 16. bis Ende 17. Jahrhunder suchte die Landbevölkerung vermehrt Zuflucht in den Städten. Die Armutssituation verschärfte sich deutlich. Im Übergang zur Disziplinargesellschaft galt Armut ganz klar als selbstverschuldet. Demgegenüber galt Wohlstand als Zeichen gottgefälligen Lebens. Es ist erschreckend, wie viel unverhüllter Zynismus gegenüber der Armut in den gesellschaftspolitischen Schriften des 18. Und 19. Jahrhunderts zu finden ist. Leider sind diese Motive bis heute ganz und gar nicht verschwunden. Ganz konkret zeigten sie sich bereits wieder in den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und im Umgang mit den sogenannten «Kindern der Landstrasse».
Aber warum wir letztlich so reflexartig aggressiv auf Armut und Arme reagieren, erfordert eine sozialpsychologische Antwort. Paradoxerweise haben Schwäche, Bedürftigkeit, Not und Armut für uns etwas Bedrohlicheres als aggressive Stärke. Früh haben wir gelernt, dass auf unsere eigenen Schwäche und Bedürftigkeit nicht eingegangen wurde. Wir haben uns damit abgefunden, uns eingerichtet in einer gewissen Ruhe. Arme stören diese Ruhe und erinnern uns an unsere eigene Armut.
Leonhard Ragaz fasste es prägnant und provokativ in seinem Werk «Von Christus zu Marx – von Marx zu Christus» zusammen: Das Christentum hat den Materialismus ausser Acht gelassen und der Marxismus den Idealismus. Darum wäre so etwas wie ein religiöser Sozialismus nötig.
Sandro Fischli