barbershop concept and people - Barber applies a hot towel to a man's beard.

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Wo Haare fallen und Würde wächst

29.05.2025

Kolumne aus der Inselspitalseelsorge


Kürzlich wurde in einer Weiterbildung die Seelsorge als «SAC-Hütte in der Geröllhalde des Lebens» bezeichnet – also als Schutzraum. Ich kenne noch weitere solche Schutzorte – z. B. den Barbershop. Auch bartlos liebe ich es, dort zum Coiffeur zu gehen. Zwischen defektem Grossbildschirm, orientalischen Beats und dem schweren Duft von Parfum lebt ein besonderer Ort, an dem mehr verhandelt wird als Haarlängen und Bartlinien. 

Ich nenne meinen Coiffeur des Vertrauens hier Ali; er ist 20-jährig und ist vor sechs Jahren aus Syrien geflüchtet. Wenn er von seiner Heimat erzählt, läuft ihm manchmal eine Träne über die Backe. Hier ist er Chef. Seine Hände sprechen mehr als sein Mund. Er schneidet schnell, akkurat. Hier werden Männeraugenbrauen gezupft und der Eitelkeit gefrönt. Der Ort ist für viele junge Männer ein Stück Zuhause. 

Was hier geschieht, ist Handwerk, etwas, das in der digitalen Welt oft zu kurz kommt: Berührung, Aufmerksamkeit, Präsenz. Eine fast intime Verbindung kann entstehen. Hier darf Männlichkeit kraftvoll sein, verletzlich, laut, still. Hier sitzen Brüder nebeneinander, nicht verwandt, aber verbunden. Durch den gemeinsamen Wunsch, gut auszusehen – nicht nur für Instagram, sondern für sich selbst. Ein scharfer Fade, die Konturen auf den Punkt, der Bart wie aus Marmor gemeisselt. Es geht um Stil, ja. Aber auch um Stolz. Würde. Kontrolle in einer Welt, in der so oft das Gegenteil erlebt wird. Alle bekommen am Schluss zu hören: «Gut siehst du aus!»

Ich könnte ein Fremdkörper hier sein: viel älter als die meisten und ohne Migrationshintergrund. Doch auch ich habe meinen Platz, werde geschätzt. Letztes Mal hat mich ein eritreischer Teenager gefragt, ob ich seine Flirt-Messages für seine Angebetete in besseres Deutsch korrigieren könnte. Es hat mich gerührt. 

Vielleicht verlassen Männer diesen Ort nicht nur besser frisiert, sondern auch ein wenig aufrechter. Und vielleicht ist das der wahre Grund, warum wir immer wiederkommen: nicht wegen des Haarschnitts, sondern wegen des Gefühls, gesehen zu 
werden – für einen Moment nicht als Ausländer, Sozialfall, Seelsorger, Problemlöser oder Vater, sondern einfach als Mensch.

Und welches sind Ihre Schutzorte in der Geröllhalde des Lebens?

Kaspar Junker, Seelsorger im Inselspital

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