Mädchen in einem staatlichen Heim bei der Gartenarbeit. Undatierte Aufnahme. Foto: Staatsarchiv des Kantons Bern

Vom Glück vergessen, vom Staat verraten

Eine Ausstellung im Bernischen Historischen Museum erzählt die Geschichte der «fürsorgerischen Zwangsmassnahmen». Schonungslos berührend.


Annalena Müller

Frauen und Kinder waren besonders gefährdet, in die Fänge des Staates zu geraten. Statt sie zu schützen, entrechtete er sie. Befanden Kantonsvertreter, dass eine Frau ein liederliches Leben führte, wurde sie entmündigt und «versorgt». Kinder ohne Eltern oder mit «untauglich» befundenen Eltern wurden «fremdplatziert». Nicht selten erlebten sie in der Folge Ausbeutung, Erniedrigung und Missbrauch. 

«Was i glehrt ha i mim Läbe, hani vo dä Tier glehrt» 

Die Ausstellung «Vom Glück vergessen» erzählt Geschichten von Betroffenen. Eine davon ist die von Ruedi Hofer (Name geändert). Ruedi wird 1943 im Berner Oberland geboren. Mehr als 30 Mal wird er platziert – in insgesamt acht Kantonen. Meist lebt er im Stall bei den Tieren, die er versorgt. Manche Bauernhäuser sieht er nie von innen. Er isst das gleiche wie die Schweine, die er hütet. «Aber z’ersch lasch la d’Söi frässe, bevor du frissisch», befiehlt ihm einer der Bauern.

Ruedi Hofer ist den Erwachsenen ausgeliefert; er wird gedemütigt, vergewaltigt und misshandelt, bis er ins Spital muss. Nur den Tieren lernt der Junge zu vertrauen. «Was i glehrt ha i mim Läbe, hani vo dä Tier glehrt». Als Erwachsener zieht Hofer in ein abgelegenes Dorf in Graubünden – ein Kanton, in dem er nie verdingt wurde. Er arbeitet im Hunderettungsdienst. Zusammen mit seiner Hündin Diana rettet er vielen Berggänger:innen das Leben. 

Im Audioguide erzählt Ruedi seine Geschichte. Die Bescheidenheit, die aus seiner Erzählung spricht, gehört zu den berührendsten Momenten der Ausstellung. Zu Hofers wenigen schönen Kindheitserinnerungen gehört ein Ausflug in den Basler Zolli, wohin ihn eine Fürsorgerin mitnimmt. Für den Knaben das schönste Erlebnis: Der Löwe kommt ans Gitter und legt sich hin. Als Ruedi seine Hand in den Käfig steckt, wird er sanftmütig begrüsst: «Dr Leu het mr d’Hand gschläckt.» 

So dankbar ist Hofer der Fürsorgerin für dieses Erlebnis, dass er als Erwachsener nach Basel fährt, um sie zu suchen – erfolglos. Als er 2016, mit 73 Jahren, 8000 Franken vom Bund erhält, ist er wieder dankbar. Er, der nie richtig schreiben gelernt hat, verfasst einen Brief an den Bundesrat. Darin bedankt sich Hofer «für das viele Geld. So viel Geld habe ich in meinem Leben noch nie gehabt.» Er kauft eine elektrische Schneefräse, die ihm den Alltag erleichtert. Auch das schreibt er dem Bundesrat.
 


«Äs isch doch nid verbote, ä Schatz z’ha»

Eine weitere Person, die in der Ausstellung dem Leid Zahlloser ein Gesicht gibt, ist Ida Gerber (1894–1979). Sie wurde über Jahrzehnte «zwangsversorgt». Gerbers Martyrium beginnt 1930. Sie arbeitet als Dienstmädchen, als sie wegen Prostitution angezeigt wird. Ida bestreitet die Vorwürfe, dennoch wird sie vom Berner Amtsgericht wegen «lasterhaften Lebenswandels» entmündigt. 

Die Entmündigung erlaubt den Behörden, Ida nach Gutdünken zu «versorgen». Zunächst kommt Ida für zwei Jahre in die Armenanstalt Frienisberg bei Bern. Wieder in Freiheit, aber weiterhin unter Vormundschaft, arbeitet sie auf Bauernhöfen oder als Dienstmädchen. Sie lernt Hans kennen. Sie verlieben sich und schlafen miteinander. 1935, Ida ist 41, begibt sie sich mit Unterleibsschmerzen ins Inselspital. Die Ärzte diagnostizieren Syphilis. Noch im Spital wird Ida verhaftet. 

Diesmal wird sie für drei Jahre in eine Versorgungsanlage im Jura eingewiesen. Von dort schreibt sie an die Berner Justizdirektion. Immer wieder bittet sie um ihre Freilassung. Die Antwort der Behörde: «Sie haben sich in Freiheit durch liederlichen Lebenswandel unmöglich gemacht. Eine Versorgung wurde nötig, weil Sie mit Männern Verkehr suchten.» 

Hans wurde – selbstredend – nicht belangt. Wieder in Freiheit kontaktiert Ida trotz des behördlichen Verbots ihren Hans. Die Bäuerin, bei der Ida arbeitet, findet Hans’ Antwortbrief und informiert die Behörden. Ida muss zurück ins Versorgungsheim. Der Brief bringt ihr weitere fünf Jahre ein. Aus ähnlich nichtigen Anlässen wird Ida noch zwei weitere Mal «versorgt».
 

 


Dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte 

Die sogenannten «fürsorgerischen Zwangsmassnahmen» gehören zu den dunkelsten Kapiteln der schweizerischen Sozialgeschichte. Der bäuerlich geprägte Kanton Bern war bis weit ins 20. Jahrhunderts ein «Hotspot» für Fremdplatzierung und Verdingung. Wie nah das Thema an unserer Gegenwart ist, zeigt das Knabenheim «Auf der Grube» bei Köniz – es wurde erst 2012 geschlossen. Auch hier gehörten Missbrauch, Erniedrigung und Ausbeutung zum Alltag der Jungen. 

Die Ausstellung im Bernischen Historischen Museum ist kein Zuckerschlecken. Sie konfrontiert die Besuchenden mit einem Ausmass an Ungerechtigkeit, das berührt. So viel staatliche Willkür, begangen vor allem an den Schwächsten: Kindern und alleinstehenden Frauen der Unterschicht. So viel Leid, verursacht in der idyllischen Schweiz. Nicht vor 100 Jahren, sondern bis in die jüngste Vergangenheit.

In fünf aus Karton nachgebildeten Szenerien hört man die Geschichten der Betroffenen im Audioguide. Man steht im Stall neben einer Kartonkatze, während Ruedi Hofer seinen Alltag im Stall beschreibt. Oder sitzt in einer Gefängniszelle und hört Ida Gerber, um ihre Freiheit flehen. 

Ausserhalb der Szenerien informieren Tafeln über die historischen Hintergründe. Welche Rolle zum Beispiel die veränderte Armenfürsorge nach der Reformation spielte und die 68er-Bewegung zum Anfang vom Ende der «fürsorgerischen Zwangsmassnahmen» beitrug. Oder der Meilenstein von Simonetta Sommaruga, die im Namen des Bundes 2013 Betroffene erstmals um Entschuldigung bat. 

Das Team um die Berner Historikerin und Kuratorin Tanja Rietmann hat die Ausstellung liebevoll gestaltet. Ursprünglich wurde sie im Auftrag der Bündner Regierung für das Rätische Museum in Chur konzipiert. Für Bern hat das Team die Ausstellung thematisch erweitert – unter anderem um das Könizer Knabenheim. Trotz der Schwere des Themas lohnt sich ein Besuch: Schweizer Geschichte zum Anfassen.
 

«Vom Glück vergessen» 

Fürsorgerische Zwangsmassnahmen in Bern und der Schweiz. 
Bernisches Historisches Museum, Di bis So, 10.00–17.00. 
Die Ausstellung ist noch bis 11. Januar 2026 zu sehen.