Claudia Kohli und Charlotte Pauli möchten neue Zugänge zu religiösen Traditionen schaffen. Foto: Tobias Grimm, Atelier Beaufort

Stille lieben lernen: Meditation für spirituelle Anfänger:innen

Die religiöse Tradition der Stille-Meditation ins Heute übersetzen. Das möchte die «École de silence» in Bern. Dazu verlässt sie kirchliche Räume.


Sylvia Stam

«Es gibt Menschen, denen beim Wort ‹Gott› der Rollladen runtergeht. Dennoch suchen sie einen Zugang zu dem, wofür das Wort steht», sagt Claudia Kohli. Die reformierte Pfarrerin der Petruskirche Bern gehört zum dreiköpfigen Team der «École de silence». Diese «Schule für Stille», so die deutsche Übersetzung, bietet «zeitgenössische spirituelle Bildung» an, heisst es auf der Webseite. 

Mit dem neuen Angebot möchten sie «Stille mit kurzen Bildungsformaten fördern und alte religiöse Traditionen Menschen von heute zugänglich machen», sagt Kohli. Gemeint sind säkulare oder kirchenferne Menschen, für welche die Institution Kirche eine hohe Schwelle darstellt. 

Die Bedeutung des Worts 

Um diese Schwelle niedrig zu halten, muss die Institution auch örtlich verlassen werden. Die Meditationskurse finden darum im «Progr» in Bern, an der Volkshochschule oder einem Auszeit-Hotel über dem Thunersee statt. Das Schulzimmer der Volkshochschule, wo diesen Frühling erstmals ein dreiteiliger Stille-Kurs durchgeführt wurde, verbreitet mit seinen kahlen Wänden und den Neonröhren denn auch nicht gerade meditative Stimmung. 

Die neun mehrheitlich älteren Teilnehmenden, darunter drei Männer, sitzen im Kreis auf knarrenden Stühlen, in der Mitte brennt eine Kerze. Nach der Beschäftigung mit dem eigenen Atem und dem Loslassen der Gedanken geht es an diesem Abend um die Bedeutung des Worts beim Meditieren. 

«Lebenskraft» statt «Gott» 

Charlotte Pauli, Kontemplationsleiterin und ursprünglich Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, führt in das Thema ein: Sie erwähnt hinduistische Mantras, die muslimische Meditation mit einem der 100 Namen Allahs oder das christliche Herzensgebet. 

Man könne beispielsweise ein «Ja» auf das Ausatmen legen: ein Ja zu dem, was ist; zu mir, wie ich jetzt bin; zu dem, was mir zugesprochen ist von Gott. «Das Herzensgebet ist die christliche Tradition, den Namen ‹Jesus Christus›» auf den Atem zu legen» – also beim Einatmen «Jesus» und beim Ausatmen «Christus» zu meditieren. «Es gibt aber auch die Möglichkeit, wortlos den eigenen Atem wahrzunehmen». 

Nach kurzen Meditationseinheiten tauschen sich die Teilnehmenden im zweiten Teil des Abends zum Thema «Präsenz» aus. Grundlage ist ein Text des Benediktiners David Steindl-Rast. Bei den Impulsen, die Charlotte Pauli und Claudia Kohli an diesem Abend geben, wird deutlich, dass sie sich als Übersetzerinnen verstehen: Dem Wort «Gott» werden weitere Begriffe zur Seite gestellt: Lebenskraft, Geheimnis, Gegenwart. 

Verrat am Christentum? 

«Die Kursleiterinnen gehen sorgfältig mit dem Begriff ‹Gott› um, sehr öffnend und inkludierend», bestätigt Marianne Aebersold (62) aus Aarwangen. Sie hat die Abende auf Anregung ihres Vaters mit ihm zusammen besucht. Sie selbst hat keine Mühe mit christlichen Inhalten. Aber sie ist überzeugt, «dass viele Menschen, die keinen Bezug mehr zur Kirche haben, hier ein Vakuum spüren und ein solches Angebot aufsaugen würden». Das ausgebuchte Stille-Wochenende im Mai zeigt, dass sie Recht haben könnte. 

Als «Verrat am Christentum» sehen die Kursleiterinnen diesen «Sprung ins Säkulare» nicht. «Das Christentum ist meine Heimat», sagt Kohli. «Ich will davon etwas auch Menschen zugänglich machen, die religiös nicht beheimatet sind.» Manche seien erstaunt und irritiert zugleich, wenn biblische Texte einbezogen würden. «Sie verbinden mit der Bibel eine abstrakte Glaubenslehre und keinen Resonanzboden für das, was uns auch heute existenziell beschäftigt. Im besten Fall gelingt es uns, neue Zugänge zu dieser alten Tradition zu schaffen.» 


Weitere Infos: www.ecoledesilence.org