Reinhold Bernhardt: «Wer aus Quellen verschiedener Traditionen schöpft, baut oft gute Brücken zwischen den Religionsgemeinschaften.» Foto: Pixabay

Menschen setzen sich heutzutage auf vielfältige Arten mit Glaubensinhalten verschiedener Religionen auseinander. Der Theologe Reinhold Bernhardt* im Gespräch über (multi-)religiöse Identität.


Anouk Hiedl

«pfarrblatt»: Mit welchen religiösen Glaubensinhalten gehen Sie als Christ in Resonanz? 

Reinhold Bernhardt*: Religionen sind Schatztruhen, in denen man aber auch Wertloses oder sogar Toxisches findet: Man muss also genau hinsehen. Das gilt auch und vor allem für die eigene Religion. Es geht dabei ja nicht nur um die Inhalte des Glaubens, sondern auch um ethische Normen, Anleitungen für die Lebensführung, für die Gestaltung der Glaubensgemeinschaft und oft auch um politische Fragen. Paulus schrieb «Prüfet alles und bewahret das Gute» (1Thess 5,21). Für mich gilt das auch im Umgang mit anderen Religionen. Vieles, was mir dort begegnet, kann ich wertschätzen. Spontan fällt mir die grosse muslimische Gastfreundschaft, die Erzählkultur im Judentum und das buddhistische Streben nach Überwindung von «Anhaftung» ein. 

Welche religiösen Inhalte passen für Sie nicht? 

Bernhardt: Generell habe ich Mühe, wenn sich eine Religionsform selbst vergöttlicht, also nicht mehr zwischen Gott und sich als Religion unterscheidet, und wenn sie nicht über sich hinausweist. Eine Religionsform, die Absolutheitsansprüche für ihre Lehre und Praxis erhebt, tendiert zur Diskriminierung Andersglaubender. Das kommt in allen Religionen vor, auch in den vermeintlich toleranten östlichen Religionen des Hinduismus und Buddhismus. Im Buddhismus gibt es zwar keine Gottesvorstellung wie im monotheistischen Judentum, Christentum und Islam. Aber auch dort wurden und werden Alleingeltungsansprüche für die je eigene Auslegung der Lehre Buddhas erhoben. 

Wie stark beeinflussen die religiöse Sozialisierung sowie später erlangtes Wissen oder Erleben den eigenen Glauben? 

Bernhardt: Beides spielt zusammen, kann aber auch auseinandertreten, etwa wenn ein Mensch eine andere spirituelle Heimat sucht. Neben solchen Konversionen gibt es auch religiöse Mehrfachzugehörigkeiten. Der amerikanische Theologe Paul Knitter hat durch die Begegnung mit dem Buddhismus seinen christlichen Glauben neu vertieft und dazu das Buch «Ohne Buddha wäre ich kein Christ» geschrieben. 

Inwiefern lassen sich Inhalte anderer Religionen in die eigene Glaubensidentität integrieren? 

Bernhardt: Solche Verbindungen finden oft eher in der Praxis als in der Lehre statt. Das von Jesuiten betriebene Lassalle-Haus in Bad Schönbrunn etwa bietet spirituelle Übungswege aus verschiedenen Religionstraditionen an: Exerzitien, Kontemplation, Zen, Yoga und Fasten. Diese Erfahrungswege bleiben klar unterschieden, und es kommt zu keiner Vermischung der Lehren. Die Auseinandersetzung mit anderen Religionen gibt aber auch Impulse für theologische Überlegungen: Wie etwa kann die christliche Lehre von der Dreieinigkeit Gottes so entfaltet werden, dass sie auch für Menschen jüdischen und muslimischen Glaubens nachvollziehbar wird? Dabei geht es nicht darum, die eigene Glaubensauffassung von der Zustimmung Andersglaubender abhängig zu machen, sie aber doch so auszulegen, dass sie deren Gottesverständnis respektiert und ihre Einwände ernst nimmt. Dadurch kann die christliche Glaubenslehre auch für Christ:innen eine grössere Plausibilität gewinnen. 

Wie viel Religionsvermischung verträgt der Glaube? 

Bernhardt: Glaube ist ein lebendiger Prozess, kein starres System. Es gibt nicht «den» Glauben, sondern sehr verschiedene Aneignungsformen davon. Ich masse mir nicht an, Rechtgläubigkeitsprüfungen vorzunehmen, sondern ich interessiere mich dafür, welche Lebenshaltung sich für Menschen aus ihrem Glauben ergibt. Ich bin froh, dass wir in der evangelischen Kirche kein Lehramt haben, das klare Grenzen setzt. Andererseits ist auch nicht jede Glaubens- und Lebenshaltung evangeliumsgemäss. Deshalb hat Paulus den Christ:innen einen Prüfungsauftrag gegeben und die Unterscheidung der Geister verlangt. Oberstes Kriterium dafür ist die Liebe, denn ein liebloser Glaube kann sich nicht auf Christus berufen. 

Sich Passendes aus verschiedenen Religionen für seinen Glauben herauszupicken, ist praktisch, bequem und mitunter etwas unverbindlich – wie im Supermarkt… 

Bernhardt: Ich tue mich schwer, solche Glaubensformen als «Supermarkt»-Glauben zu bezeichnen und damit abzuwerten. Für Menschen, die sie leben, können diese Werte eine hohe Verbindlichkeit haben. Umfragen zeigen immer wieder, dass auch «Rundum-Christ:innen» auf Glaubensinhalte aus anderen Religionstraditionen, der Volksreligiosität oder der Esoterik zurückgreifen. Das zeigt sich auch beim Blick über das europäische Christentum hinaus. In Ghana etwa sind die vielfältigen Formen des christlichen Glaubens tief mit afrikanischen Religionstraditionen verwoben. 

Inwiefern sind Religion, Spiritualität und alternative Lebensanschauungen gleichwertig? 

Bernhardt: Die religionswissenschaftliche Forschung hält sich mit Werturteilen ganz zurück und betrachtet all die genannten Religionsformen im Blick auf ihre Strukturen, Funktionen und Vollzüge. Auch die christliche Theologie hat gelernt, mit pauschalen Werturteilen vorsichtig zu sein. Die Geschichte des Christentums zeigt, wie sich diese Religion immer wieder neu kontextualisiert und inkulturiert hat. In der Begegnung mit anderen Religionen und Kulturen hat dieser Glaube stets neue Auslegungsformen gefunden – ein Zeichen von Lebendigkeit! Der Begriff «Spiritualität» ist urchristlich, während der Begriff «Religion» keinen biblischen Ursprung hat, sondern aus dem Kult- und Rechtswesen des Römischen Reichs stammt. 

Wo setzen Sie in Sachen Religion Grenzen? 

Bernhardt: Klare Grenzen setze ich da, wo Religionsformen repressiv werden, die Grundprinzipien der Humanität verletzen, Andersglaubende und -denkende – auch innerhalb der eigenen Gemeinschaft – diskriminieren oder Gewalt legitimieren. Die Religionsgeschichte zeigt, wie problematisch die Verbindung von Religion mit politischer Macht ist. Religionen sind ambivalent – sie können Versöhnung und Frieden bewirken, aber auch Hass und Feindschaft befeuern. Letzterem muss man Grenzen setzen. 

Was bedeuten heterogene religiöse Identitäten für den interreligiösen Dialog? 

Bernhardt: Man kann auch multireligiöse Identitäten verabsolutieren, sich damit über Andersglaubende erheben und ihrer Religionsform die Geltung absprechen. Doch wer aus den spirituellen Quellen verschiedener Religionstraditionen schöpft, baut oft gute Brücken zwischen den Religionsgemeinschaften. Diese Menschen leben ja in einem inneren interreligiösen Dialog und können diese Haltung dann auch nach aussen tragen.
 

 

* Prof. Reinhold Bernhardt, 68, lehrte bis 2024 Systematische Theologie an der Universität Basel. Zu seinen wichtigsten Schwerpunkten gehören die Beziehung des christlichen Glaubens zu anderen Religionen, die Vorsehungslehre (das «Handeln Gottes») und Grundfragen von Theologie und Naturwissenschaft.

 

Lesetipps 

Reinhold Bernhardt, Perry Schmidt-Leukel (Hrsg.): Multiple religiöse Identität. Aus verschiedenen religiösen Traditionen schöpfen (Beiträge zu einer Theologie der Religionen, Band 5), Zürich: TVZ, 2008. 
Reinhold Bernhardt: Religiöse «MultiIdentität», in: Theologische Zeitschrift 70, 1/2014, 52-72.