Sie waren des Lesens und Schreibens mächtig: mittelalterliche Nonnen. Detail aus: La Sainte Abbaye, 1294, The British Library, Add. Ms. 39843, vol. 6 v.

Nonnen! Unterschätzte Frauen des Mittelalters

Zwei Schweizer Klöster und eine neue Studie zeigen: Mittelalterliche Nonnen spielten eine zentrale Rolle bei der Überlieferung des christlichen Erbes und des westlichen Kanons.

 

Annalena Müller

Wir alle kennen das Bild aus Filmen mit Mittelalter-Setting: In einer zugigen Schreibstube kopieren Mönche bei schlechtem Licht die Bibel. Die intellektuelle Variante des benediktinischen Gebots ora et labora (bete und arbeite). 

Erst langsam setzt sich die Erkenntnis durch: Nicht nur Mönche, sondern auch Nonnen kopierten im Mittelalter Buch um Buch – auch sie waren Wissens-Hüterinnen und Vervielfältigerinnen der Epochen.

Schreibende Frauen

Nun hat eine in einem Ableger des renommierten Wissenschaftsmagazin «Nature» veröffentlichte Studie versucht, die schreibenden Frauen des Mittelalters zu beziffern. So viel sei vorab gesagt: Die Zahlen der Studie sind wenig aussagekräftig. Das räumen die Autor:innen auch selbst ein. Aber der Reihe nach.

 

Warum sind die klösterlichen Kopist:innen heute noch wichtig? Es ist ihrer Arbeit zu verdanken, dass das Wissen der Vergangenheit auf uns gekommen ist. Neben der Bibel kopierten Mönche und Nonnen die Werke des klassischen Kanons – von Platon über Cicero, die Kirchenväter. Kompilatoren wie Isidor von Sevilla (†636) und Herrad von Landsberg (†1195) trugen das Wissen ihrer Zeit in Enzyklopädien zusammen. Solche Lehrschriften wiederum formten die grossen Denker und Denkerinnen des Mittelalters, deren Werke bis heute die Kirchenlehre prägen und die in jeder Bibliothek zu finden sind. 

Erbe des 19. Jahrhunderts

Die grosse Bedeutung mittelalterlicher Schreibstuben ist bekannt. Unbekannt blieb lange: Sie waren keine Männerdomain. Das eingangs erwähnte Bild der Mönche im Skriptorium haben vor allem Historiker des 19. Jahrhundert geprägt. Das Erbe aus der Frühphase der modernen Geschichtswissenschaft wirkt bis heute nach.

 

Im 19. Jahrhundert ging man davon aus, dass Männer Geschichte machen. Frauen kamen – abgesehen von Ausnahmen wie Hildegard von Bingen (†1179) oder Katharina von Siena (†1380) – kaum vor. Männerklöster galten als Zentren der Gelehrsamkeit, Frauenklöster als Abstellplatz für nicht-verheiratbare Töchter. Dieses letzte Bild war wiederum ein Erbe der antiklösterlichen Propaganda der Reformation, das die Geschichtsenthusiasten des 19. Jahrhundert unhinterfragt übernahmen.

Erst in den letzten Jahrzehnten hat sich in der historischen Forschung die Erkenntnis durchgesetzt: Das Mittelalter war bunter und Frauen waren mächtiger als es sich die Herren des 19. Jahrhunderts haben träumen lassen. Seither sind zahlreiche Bücher erschienen (darunter auch zwei von der Autorin dieses Artikels), die zeigen: Frauenklöster waren keineswegs Abstellplätze, sondern politische, wirtschaftliche und intellektuelle Zentren, die den Männerklöstern in nichts nachstanden.

Studie versucht konkrete Zahlen zu nennen

Nun hat diese Erkenntnis auch das naturwissenschaftliche Fachmagazin Nature erreicht, beziehungsweise das zugehörige Humanities & Social Sciences Communications. In einer kürzlich veröffentlichten Studie hat ein Team um die norwegische Literaturwissenschaftlerin Åslaug Ommundsen versucht, die Zahl der von Frauen im Mittelalter verfassten Bücher statistisch zu greifen.

 

Die Untersuchung stützt sich auf einen Katalog, den die Mönche der Walliser Abtei Le Bouveret zwischen 1965 und 1982 angelegt haben. Darin sammelten sie 23’774 Kolophone – kurze Anmerkungen in mittelalterlichen Manuskripten, die Informationen zum Schreiber oder der Schreiberin, zur Entstehungszeit und zum Entstehungsort sowie mitunter persönliche Gedanken enthalten. 

Das Forschungsteam konnte 254 Kolophone eindeutig Frauen zuordnen. Das entspricht etwas über einem Prozent der im Katalog aufgeführten Bücher. Auf dieser Grundlage argumentiert Ommundsens Team, dass mindestens 1,1 Prozent der heute noch existierenden mittelalterlichen Handschriften von Frauen stammen – insgesamt etwa 110’000.

Zahlenspiel ohne Aussagekraft

Das Problem: Diese Zahlen sind kaum aussagekräftig. Der verwendete Katalog ist zufällig, sein Inhalt nicht repräsentativ für Kolophone. Hinzu kommt, dass die meisten mittelalterlichen Handschriften keine Angaben zum oder zur Verfasser:in enthalten – sie sind anonym.

 

Dieser Schwäche sind sich die Forschenden bewusst. Sie räumen ein, dass die Dunkelziffer schreibender Frauen sicherlich um ein Vielfaches höher ist. Obwohl die Studie wenig Handfestes liefert, lenkt sie die Aufmerksamkeit auf ein relevantes Thema: Die wichtige Rolle, die mittelalterliche Frauen im Wissenstransfer hatten. Seit Veröffentlichung im März wurde die Studie über 20'000 mal gelesen und auch von  Mainstreammedien aufgenommen.

Im St. Galler Skriptorium

Tiefere Einblicke in weibliche Schreibtätigkeit als die Studie und der Katalog von Le Bouveret bietet übrigens das St. Galler St. Katharinenkloster. Vor der Reformation verfügten die dortigen Nonnen über eine grosse Bibliothek, die im 16. Jahrhundert mindestens 323 Manuskripte umfasste. Viele davon hatten die 22 Frauen selbst angefertigt. 

 

Als die Stadt das Katharinenkloster 1529 im Rahmen der Reformation aufhob, begannen die Nonnen einen 26 Jahre währenden Kampf, um den Konvent – und vor allem dessen Bibliothek – zu retten. Als man im Kloster von den Bilderstürmen und Bücherverbrennungen in Zürich, Bern und Basel hörte, nahmen die Frauen den Schutz der geliebten Bücher sogar selbst in die Hand. 

In einer Nacht und Nebelaktion schmuggelte die Bibliothekarin des Klosters, Sr. Regula Keller, Bücher aus dem Kloster. Das wissen wir, weil einer der Briefe, den sie in diesem Zusammenhang an die Oberin des Klosters Appenzell schrieb, überdauert hat:

 

«Liebe Mutter des Schwersternhauses Appenzell!

Ich, Schwester Regula Keller von St. Katharina in St. Gallen sende dir zwei Bücher: «Das Paradies der Seele» und «Das Buch von der geistlichen Gemahlschaft (...)». Der Grund dafür ist, dass es hier solch andauernde Unruhen gibt, dass wir Angst haben, diese Dinge zu verlieren. (...)

Ich bitte dich, niemandem hier zu sagen, dass ich sie dir gesendet habe, denn ich habe nicht um Erlaubnis gebeten.

Bitte lege diesen Brief in eines der Bücher ... Damit man in Zukunft noch weiss, wohin die Bücher gehören. 

Und bete für uns, aber frag nie nach. Denn sollte unser Kloster vergehen und all die Schwestern mit ihm, dann hast du die Bücher.»

 

 

Info-Webseite: Äbtissinnen und Klostermacht im Mittelalter

Das Leben in mittelalterlichen Frauenklöstern war vielschichtig und bot aus heutiger Sicht manch Überraschendes. Frauenklöster waren das ganze Mittelalter hindurch Orte hoher Bildung – die Nonnen kopierten Bücher, verfassten selbst welche und Klosterschülerinnen erhielten im Kloster eine fundierte Ausbildung.

Auch war ein Kloster immer Ort der Wirtschaft. Die Institution besass Tiere, Felder und Mühlen. Die Erträge dieser und anderer Besitztümer ernährte die Gemeinschaft und sie mussten gut verwaltet werden.

Die Äbtissinnen an der Spitze der Klöster herrschten über Menschen, sie sprachen Recht, erhoben Steuern und setzten Priester ein. Sie waren mitunter mächtige Politikerinnen, die, wie die Äbtissin des Zürcher Fraumünsters, nicht nur ihre Abtei, sondern gleich eine ganze Stadt regierten.

Hier geht's zur Webseite und zur faszinierenden Welt mittelalterlicher Nonnen.