*Marieke Kruit (56) ist Mitglied der SP und leitete im Berner Gemeinderat die Direktion für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün. Am 1. Januar 2025 tritt sie das Amt der Stadtpräsidentin an. Foto: Pia Neuenschwander

Marieke Kruit: «Stadt und Kirche sind ein gutes Gespann»

Marieke Kruit ist die erste Frau an der Spitze der Stadt Bern. Ein Gespräch mit der neuen Stapi über Religion, Politik und Frauen in Führungspositionen.


Annalena Müller

«pfarrblatt»: Beginnen wir mit der Gretchen-Frage: «Wie halten Sie es mit der Religion, Frau Kruit?»

Marieke Kruit*: In meinem Alltag spielt Religion keine direkte Rolle. Aber seit meiner Kindheit fasziniert mich das Thema und ich gehe bis heute gerne in Gottesdienste – gleich ob reformiert oder katholisch. Ich war auch schon bei muslimischen Gebeten und darf demnächst an einem jüdischen Gottesdienst teilnehmen. Für mich sind Religionen besonders aus kultureller Hinsicht sehr interessant.

Sind Sie in einem religiösen Umfeld aufgewachsen? 

Kruit: Meine Eltern waren nicht religiös, meine Grosseltern hingegen sehr. Von ihnen habe ich sehr viel Alltagsreligion mitbekommen – das Gebet vor dem Essen zum Beispiel. In dem Dorf im Oberland, wo ich aufgewachsen bin, gehörten gefühlte 80 Prozent der Einwohnenden einer Freikirche an. Das hat meine Jugend natürlich auch geprägt. Ich bin sehr gerne in die Sonntagsschule gegangen, als Kind mochte ich die spannenden Geschichten in der Bibel.

Gibt es etwas, worum Sie religiöse Menschen beneiden?

Kruit: Vielleicht die Gewissheit, die viele religiöse Menschen haben. In meinem früheren Beruf in der Sozialpsychiatrie habe ich immer wieder gesehen, dass der Glaube besonders in Krisen Halt geben kann. Und auch die Gemeinschaft ist dann wichtig. Gläubige Menschen haben häufig ein Umfeld, das sich kümmert und unterstützt. Für viele meiner Patienten und Patientinnen war das sehr hilfreich.
 

Sie sind die erste Frau an der Spitze der Stadt Bern. Wie fühlt sich das an?

Kruit: Es fühlt sich sehr gut an (lacht). Nach dem 24. November musste ich aber alles erst einmal sacken lassen. Das Wahlresultat hat mich natürlich sehr gefreut, aber auch etwas überwältigt. Jetzt freue mich sehr auf die neue Aufgabe. Aber ich habe auch Respekt vor der Verantwortung als Stadtpräsidentin.

Sie stammen aus dem eher bürgerlich geprägten Saanen. Der Gemeinderat dort besteht aus sieben Männern und zwei Frauen. Werden progressive Frauen in Leitungspositionen dort anders wahrgenommen als im linken Bern?

Kruit: Ja, dem ist sicherlich so. In den ländlichen Regionen muss man als Frau oft doppelt beweisen, dass man es kann. Aber ich möchte auch betonen, dass ich im Saanenland, wo ich aufgewachsen bin, tolle und toughe Frauen kennengelernt habe. Z.B. Bäuerinnen, die grosse Höfe und Betriebe gemanaget haben. Dazu braucht es viel, aber diese Führungsarbeit wird häufig nicht als solche wahrgenommen.

In der Männerdomäne katholische Kirche berichten Frauen oft, ihre Fehler wiegen doppelt, und ihre Erfolge zählten nur halb. Haben Sie in der Politik ähnliche Erfahrungen gemacht?

Kruit: In meiner Partei weniger. In der SP ist es heute durchaus ein Vorteil, eine Frau zu sein (lacht). Früher war es aber auch dort anders. Und in den parteiübergreifenden Gremien muss man sich als Frau auch heute noch besonders beweisen. Die Glasdecke ist also nicht nur eine Anekdote vergangener Tage. Aber es ändert sich. In der Direktion für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün, wo noch deutlich mehr Männer als Frauen arbeiten, habe ich mich von Anfang an sehr gut aufgehoben gefühlt.
 


Der Berner Stadtrat wünscht sich gegenderte Strassennamen. Glauben Sie, dass inklusive Namen etwas an exklusiven Gesellschaftsstrukturen ändern können?

Kruit: Momentan sind die meiste Strassen nach Männern benannt. Das ist schlicht ungerecht, da es auch in der Vergangenheit sehr viele Frauen gab, die grosses für die Gesellschaft geleistet haben – in der Friedensbewegung, der Arbeiterbewegung oder im sozialen Bereich. Das aktuelle Strassenbild spiegelt das nicht wider. Ich finde es wichtig, dass wir das jetzt anzuerkennen beginnen. Vor diesem Hintergrund hat der Gemeinderat beschlossen, dass neue Strassen nach Frauen oder genderneutral benannt werden, bis die 50 Prozentquote erreicht ist.

Aber ändert die Namensgebung etwas an gesellschaftlichen Strukturen?

Kruit: Ja. Ich glaube, dass es etwas an der Wahrnehmung der Leute ändern kann und wird. Auch in dem Sinne, dass es unterschiedliche Leistungen gibt. Es ist nicht nur der Manager, der eine bewundernswerte Leistung erbringt, sondern es kann genauso  eine Hausfrau und Mutter sein. Ich finde es extrem wichtig, dass man beginnt, die Diversität der Beiträge in der Gesellschaft mehr wertzuschätzen.

Kirchliche Einrichtungen engagieren sich an verschiedenen Orten in der Stadt. Das Dock 8 oder die Jugendschlafstelle Pluto sind Beispiele. Haben Sie bereits mit kirchlichen mitgetragenen Projekten zu tun gehabt?

Kruit: Ja, sicher. Vor allem in meiner Tätigkeit als Psychotherapeutin. Ich habe damals zwar vor allem ausserhalb Berns gearbeitet, in Langental und Thun, aber dort hatte ich viel mit der Heilsarmee, mit Einrichtungen für Schlafplätze und Unterkünften zu tun. Diese Projekte habe ich immer als sehr gut und wertschätzend erlebt. 
 


Wo könnten Kirche und Stadt Ihrer Meinung mehr zusammenarbeiten?

Kruit: Ich denke, es gibt viele Schnittstellen. Natürlich besonders im sozialen Bereich, wo die Kirchen ja sehr engagiert sind. Ein zunehmend wichtiges Thema ist Einsamkeit– nicht nur bei älteren Menschen. Dort kann Kirche zusammen mit dem Staat eine zentrale Rolle spielen.

Gibt es konkrete Wunschprojekte?

Kruit: Was wir sicher angehen müssen, ist die Obdachlosigkeit. Das ist ein in den letzten Jahren zunehmendes Problem in Bern. Hier arbeiten wir als Stadt schon viel mit Partnerorganisationen zusammen. Ein weiteres Beispiel ist die Suchtthematik, wo wir als Stadt neben den medizinischen Einrichtungen auch mit den Kirchen zusammenarbeiten. Stadt und Kirche sind ein gutes Gespann.

Sie als Stadtpräsidentin sind also offen für Kooperationen mit kirchlichen Trägerschaften?

Kruit: Ja, absolut.

 

*Marieke Kruit (56) ist Mitglied der SP. Zwischen 2013 und 2020 gehörte sie dem Berner Stadtrat an. Seit 2021 ist sie Mitglied des Gemeinderats und leitete die Direktion für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün. Am 1. Januar 2025 tritt sie das Amt der Stadtpräsidentin an.