Kennt die Perspektive des geweihten Lebens und der Bistümer: Mari Carmen Avila. Foto: Annalena Müller

Mari Carmen Avila: «Begleitung der Priester ist grosse Baustelle»

Mari Carmen Avila ist Präventionsbeauftrage des Bistums Lausanne, Genf und Freiburg. Ab Januar wird die «Gottgeweihte Frau des Regnum Christi» zusätzlich bei der Nationalen Dienststelle Missbrauch im kirchlichen Kontext arbeiten.

 

Annalena Müller

«pfarrblatt»: Ab Januar werden Sie bei der «Nationalen Dienststelle Missbrauch im kirchlichen Kontext» mitarbeiten. Was qualifiziert Sie für die Aufgabe, Frau Avila?

Mari Carmen Avila*: Zum einen meine zweijährige Tätigkeit als Präventionsbeauftragte des Bistums Lausanne, Genf und Freiburg (LGF). Dazu kommt meine ganz persönliche Erfahrung in diesem Feld.

Sie sind Mitglied von «Regnum Christi»…

Avila: Genau. «Regnum Christi» ist die Laienorganisation der «Legionäre Christi». Beide wurden von Marcial Maciel gegründet. Nach der Jahrtausendwende hat sich herausgestellt, dass Maciel zahlreiche Kinder missbraucht hat. Ich war Teil der Kommission, die 2012 vom Vatikan ernannt wurde, um die Gemeinschaft aus dieser Krise zu führen. Ich kenne also sowohl die Perspektive des geweihten Lebens als auch die der Präventionsarbeit auf diözesaner Ebene. Ich denke, diese doppelte Perspektive ist für meine neue Aufgabe hilfreich.

Sie werden mit einem Mini-Pensum von 20-Prozent bei der Nationalen Dienststelle arbeiten. Was kann man mit 20 Prozent bewegen?

Avila: Für mich ist der Dialog wichtig – zwischen der Deutschschweiz, der Romandie und der Südschweiz. Aber auch zwischen der Kirche und den staatlichen Stellen Hier gibt es viel kulturelle Übersetzungsarbeit zu leisten. Da sehe ich eine meiner Aufgaben.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Avila: Zum Beispiel die kantonale Opferhilfe. Dort arbeiten wir mit speziell ausgebildeten Fachleuten zusammen. Aber es gibt auch Aufgaben, die wir kirchenintern lösen müssen. Viele Betroffene wünschen sich eine erneute Annäherung an die Kirche oder möchten den zuständigen Bischof treffen. Hier liegt meiner Ansicht nach eine der grossen Herausforderungen: in den Dialog mit der Gesellschaft treten und gleichzeitig sicherzustellen, dass der kircheninterne Dialog weiterverfolgt wird.

Werden Ihre konkreten Aufgaben bei der Dienststelle in diesem Bereich liegen?

Avila: Wir sind noch dabei, die Aufgaben zu definieren. Aber ich denke, dass ich hier viel beitragen kann. Und natürlich in der Brückenfunktion zwischen der Deutschschweiz und der Westschweiz. Auch hier braucht es Dialog, denn man versteht sich oft nicht.

Inwiefern?

Avila: Die Ausdrucksweise im Deutschen ist sehr direkt, sehr präzise. Im Französischen und Italienischen ist das anders. Ein Beispiel hierfür ist der Churer Verhaltenskodex. Im deutschsprachigen Teil der Diözese LGF haben wir ihn – mit kleinen Veränderungen – eingeführt. Als wir den Kodex auf französisch übersetzt haben, stellten wir fest, dass es unmöglich sein würde, ihn einzuführen. Wir mussten ihn komplett neu schreiben. Die Ideen sind die gleichen, aber die Ausdrucksweise ist anders.

Innerhalb der Kirche gilt das traditionelle Milieu mit seinen klaren Hierarchien und dem Klerikalismus als besonders anfällig für spirituellen und sexuellen Missbrauch. Als Mitglied von Regnum Christi kennen Sie dieses Milieu gut. Ist diese Verbindung vorteilhaft oder hinderlich für Ihre neue Funktion? 

Avila: Meiner Meinung nach ist es ein Vorteil. Ich habe bei Regnum Christi die Veränderungen erlebt. Ich weiss, wie es früher war und wie es heute ist. Und ich kenne die Reaktionen von Menschen innerhalb betroffener Institutionen

Sie bringen also ausreichend Distanz mit?

Avila: Ja.

Bei den Betroffenenorganisationen ist die Romandie der Deutschschweiz voraus. Es gibt in LGF schon seit Jahren die Organisationen sapec und CECAR. Wie sind Ihre Verbindungen zu den beiden Gruppen?

Avila: Ich kenne beide Gruppen und wir arbeiten gut zusammen. Es ist wichtig, dass es Organisationen gibt, die nicht im Schoss der Kirche angesiedelt sind. Denn es gibt Betroffene, die diese Distanz explizit wünschen. Im Bistum LGF stehen wir jetzt aber vor der Herausforderung, wie wir mit all den Organisationen am besten zusammenarbeiten können. Neben sapec und CECAR gibt es auch die diözesane Kommission, der ich angehöre, und neu die kantonale Opferhilfe. Im Bistum ist es unter anderem meine Aufgabe zu schauen, wer was macht und wie. Aber alle Beteiligten haben die richtigen Intentionen. Und das ist, was zählt.

Was erwarten Sie persönlich von der neuen Dienststelle?

Avila: Die Massnahmen, die man jetzt einführt und umsetzt, sind richtig und wichtig. Aber mittelfristig brauchen wir einen Kulturwandel. Und ein Kulturwandel braucht Zeit. Meine Erwartung ist, dass wir mit der Dienststelle den Kulturwandel starten können.

Wo sehen Sie die grössten Baustellen?

Avila: Ich glaube, dass wir auf einem guten Weg sind. Grosse Baustellen sehe ich bei der Begleitung von Priestern, die sich etwas zuschulden haben kommen lassen. Die Kirche bleibt für sie verantwortlich. Wie begleiten wir sie? Aber auch: wie stellen wir sicher, dass sie nicht rückfällig werden? Eine weitere Baustelle sind die «Kollateral-Opfer», die Familien und Gemeinschaften der Missbrauchsbetroffenen, aber auch die Familien der Priester. Auch hier gibt es noch viel zu entwickeln.

Wo sehen Sie die Kirche Schweiz in fünf Jahren?

Avila: Wenn wir unsere Arbeit gut machen, dann hoffe ich, dass die Kirche ein Ort ist, an dem man sich willkommen und sicher und nicht gefährdet fühlt. 

*Mari Carmen Avila wurde 1959 in Mexiko geboren. 1984 trat sie der Gemeinschaft der gottgeweihten Frauen des Regnum Christi bei. Avila ist diplomierte Religionswissenschafterin der Hochschule der Legionäre Christi in Rom (Athenaeum Pontificium Regina Apostolorum). Seit November 2022 ist sie bischöfliche Beauftragte für Prävention im Bistum LGF.

 

Legionäre Christi und Regnum Christi

Die Legionäre Christi wurden 1941 von Marcial Maciel (1920-2008) gegründet. 1959 gründete Maciel die Laienorganisation Regnum Christi. In Zusammenarbeit mit den Legionären unterhält das Regnum 40 höhere Bildungseinrichtungen wie Universitäten und 150 Schulen.

Seit den 1940er Jahren kam es zu zahlreichen Missbrauchsfällen in beiden Gemeinschaften, die als traditionalistisch und abgeschottet gelten. Eine vatikanische Untersuchung stellte 2010 teilweise sektenhafte Züge fest und ordnete eine Neuordnung des Ordens und seines Laien-Zweigs an.