Interreligiöses Feiern als Sonderfall
Herausforderungen ans Miteinander
Da die Schweiz nicht nur säkularer, sondern auch religiös pluraler wird, bietet sich als neuer Weg ein «interreligiöses Miteinander» an. Das stellt die Beteiligten allerdings vor vielschichtige Herausforderungen.
von Ann-Katrin Gässlein*
Interreligiöses Feiern als Sonderfall
Seit mehreren Jahrzehnten verlieren die christlichen Kirchen gesellschaftlich zunehmend an Bedeutung. Selbst wenn sie ökumenisch auftreten, können sie nicht mehr den Anspruch erheben, allein für die rituelle Gestaltung des öffentlichen Lebens zuständig zu sein. Da die Schweiz nicht nur säkularer, sondern auch religiös pluraler wird, bietet sich als neuer Weg ein «interreligiöses Miteinander» an – z.B. bei Trauerfeiern nach einer gemeinsam erlebten Katastrophe, bei Jubiläen, bei Gedenkveranstaltungen und vielem mehr.
Die evangelische und katholische Theologie wie auch die Kirchen in der Schweiz haben sich des Themas längst angenommen. Eine grundsätzlich wertschätzende Haltung gegenüber Menschen anderen Glaubens geht einher mit dem Aufruf, Beziehungen durch Gespräche und gemeinsame Anlässe zu pflegen. – Interreligiöse Feiern stellen allerdings einen Sonderfall dar: Hier ist der Kern des eigenen Glaubens betroffen und vielleicht auch gefährdet, hier gibt es aber auch Chancen, einander jenseits von Podiumsgesprächen zu begegnen und dank dieser Auseinandersetzung zu einer persönlichen Glaubensvertiefung zu gelangen.
Interreligiöse Feiern und religiöse Vielfalt
In der theologischen Literatur fällt auf, dass interreligiöses Feiern vor allem durch die hauptverantwortlichen Akteure definiert wird, die eine bestimmte Tradition «vertreten» und aus dieser Texte, Gebete, Lieder oder Rituale in die Feier einspeisen. Eine Feier wird «interreligiös» durch die mitwirkenden jüdischen oder muslimischen Gläubigen, und nicht etwa durch eine Koranlesung oder ein jüdisches Lied.
Aus der Logik der christlichen Tradition wird abgeleitet, dass Priester, Pfarrerin, Imam und Rabbiner jeweils für sich eine «Gemeinde» repräsentieren und ihre Mitglieder zur Feier mitbringen. – Die religionssoziologische Realität in der Schweiz zeigt nun aber, dass insbesondere die Gruppe der Konfessionslosen stetig wächst und religiöse Traditionen sich intern differenzieren.
Qualifizierte und motivierte andersreligiöse Partner:innen sind bisweilen schwer zu finden, vor allem aus dem jüdischen Kontext. Dann gehören viele Migrant:innen und Flüchtlinge zu einer orthodoxen oder orientalischen Kirche, wirken mit ihren Traditionen auf einheimische Kirchenbürger:innen äusserst fremd, zählen aber dogmatisch gesehen zur christlichen Grossfamilie und sind nicht automatisch in interreligiöse Settings eingebunden.
Christ:innen aus Freikirchen halten sich bislang von interreligiösen Anlässen fern, aber auch Katholik:innen aus Polen, Kroatien oder Italien fehlen weitgehend. So spiegeln bereits die Vorüberlegungen viele ungelöste Fragen der innerchristlichen Pluralität wider.
Sie konfrontieren die Vorbereitungsteams mit der Einsicht, dass auch ein liberales Mitglied des Frauenbunds und ein frommer Wallfahrer aus der marianischen Gruppe trotz nominell gleicher Kirchenzugehörigkeit kaum miteinander in Kontakt kommen und dass hinsichtlich religiöser Verständigung noch viel Arbeit ansteht.
Noch gar nicht gelöst ist zudem die Frage, wie Christ:innen mit Buddhist:innen und Hindus umgehen, die einen Konversionshintergrund haben und folglich das Christentum sehr wohl kennen oder zu kennen meinen. Hier gehen die Narrative des gegenseitigen «Kennenlernens» und insbesondere von der «Integrationskraft» des interreligiösen Feierns nicht auf.
Intensive Beziehungsarbeit und Erwartungsmanagement
Wenn Christ:innen einen interreligiösen Anlass planen, können sie bei der Zusammensetzung der Akteure flexibel vorgehen. Interreligiöse Feiern können aus einer gemeinsamen Betroffenheit heraus entstehen, z.B. mit türkischen, alevitischen und syrischen Gläubigen nach einer Erdbebenkatastrophe. Sie können Vertreter:innen nach ihrer lokalen Verwurzelung oder ihrem theologischen Profil auswählen, aufgrund ihrer politischen Bedeutung einbinden oder auch bestimmte Gruppen, z.B. nur Frauen, ansprechen.
Weiter lohnt es sich, nicht ausschliesslich auf religiöse Leitungsfiguren zu setzen, sondern insgesamt glaubwürdige und kompetente Gläubige zu suchen – ob sie im Auftrag oder für eine bestimmte Gemeinde handeln, ist zweitrangig. Für ein erfolgreiches Erwartungsmanagement sollte man sich im Klaren sein, dass gelingende Anlässe eine intensive Beziehungsarbeit voraussetzen.
Da der Kreis konfessionsloser Ex-Christ:innen mit einer interreligiösen Feier nicht automatisch angesprochen ist und es sich bei den nicht-christlichen Minderheiten um sehr kleine Gruppen handelt, ist eine grosse Zahl von Mitfeiernden unrealistisch.
Wichtige Entscheidungen auf Augenhöhe treffen
Interreligiöse Feiern zeigen sich heute vielfältig: als transformierte Gottesdienste, als aneinandergereihte Gebete im Rahmen öffentlicher Anlässe, als Erfahrungsraum, in dem Feiern und Lernen zusammen geschehen, oder als Dialog-Event, in den ein Gebet, ein Lied oder ein Segen integriert werden. Welche Form am besten passt, sollte vom jeweiligen Anlass und dem Konsens der Mitwirkenden abhängen.
In den Vorbereitungen stellt sich oft heraus, dass die christlichen Akteure die meisten Ressourcen mitbringen, Sakristan:innendienst und Apéro zur Verfügung stellen und weitgehend die Werbung übernehmen können. Auch hinsichtlich der Immobilien sind sie im Vorteil. Daher finden interreligiöse Feiern oft in Kirchen mit alternativer Nutzung statt.
Trotzdem sind Alternativen zu prüfen: Der öffentliche Raum in der Schweiz ist für religiöse Anlässe beschränkt, aber Feiern in der Natur stossen meist auf positive Resonanz.
Wenn eine interreligiöse Feier aber Berührungsängste abbauen soll und die Zusammenarbeit auf Augenhöhe ernst meint, ist auch einmal ein Wechsel der Lokalität in eine gastfreundliche Moschee oder einen Hindutempel empfehlenswert.
Texte – Lieder – Gebete
Weil interreligiöse Feiern nicht kirchenrechtlich geordnet sind, können sie aus dem ganzen Reichtum der verschiedenen Traditionen schöpfen. Christ:innen werden schnell feststellen, dass sich biblische Texte nur begrenzt eignen. In Frage kommen vor allem sogenannte «Klassiker» aus den Evangelien oder Psalmen mit ihrer dichten und persönlichen Gottesbeziehung.
Es lohnt sich, nachzudenken, wie diese Texte eingeleitet werden sollen und wie viel, bzw. wie wenig Kontext notwendig ist. In katholischen Gottesdiensten reicht es aus, «Aus dem heiligen Evangelium nach Lukas» anzukündigen – in einer interreligiösen Feier braucht es dazu sicher Ergänzungen, aber keine Bibelkatechese.
Einige nicht-christliche Religionen legen den Fokus weniger auf das gesprochene Wort, und nicht alle haben «Heilige Schriften», aus denen vorgelesen wird. Sie pflegen eher rezitativen Gesang, der für Uneingeweihte fremd und monoton erscheinen mag. Während Texte der Baha’i-Religion heute durchweg ins Englische und Deutsche übersetzt und zugänglich sind und aus dem Koran und der Sunna ebenfalls Übersetzungen vorliegen, sieht dies für Gedichte und Lieder aus dem Alevitentum, dem Sikhismus oder auch dem Hinduismus ausserhalb der Bhagavadgita anders aus.
Viele Mitwirkende haben keinen akademischen Hintergrund und kaum Zugang zur Fachliteratur. Für Übersetzungen und Zusammenstellungen geeigneter Texte können interreligiöse Gruppen und Fachstellen Unterstützung leisten, auch wenn im Grundsatz alle Mitwirkenden für die eigenen Beiträge inkl. möglicher Übersetzungen die Verantwortung tragen sollten.
Für kirchlich sozialisierte Christ:innen ist das gemeinsame Singen zentral, das aber weniger universal ist, als man denkt. Muslim:innen kennen diese Tradition nicht, höchstens das Instrumentalspiel oder Ilahi (religiöse Lieder) von einer Gruppe oder einzelnen Sängern vorgetragen. Trotzdem sollten Christ:innen das gemeinsame Singen nicht vorschnell aufgeben, sondern gut überlegen, welche Lieder von wem und wie lange gesungen werden sollen.
Wenn zu einem meditativen «Ubi caritas» eingeladen und das «Wo die Liebe ist, dort ist Gott» vorher übersetzt wird, findet dies vielleicht Anklang, ebenso ein «Kyrie eleyson», je nach Ton und Stimmlage. Als Gedankenspiel und zur Sensibilisierung für die Befindlichkeiten der «anderen Seite» kann man prüfen, ob man selbst in das gemeinsame Chanten des Hare-Krishna-Mantras einstimmen würde.
Die theologische Auseinandersetzung hat sich lange am «gemeinsamen Gebet» abgearbeitet. In den 1990er-Jahren gab es Ansätze von Christen und Muslimen, gemeinsame Texte zu entwickeln und diese im Plenum zu sprechen – was dann unter Verdacht geriet, religiöse Unterschiede glattzubügeln und wichtige Aspekte wie die Trinität aufzugeben.
Tatsächlich haben die meisten der heutigen Gebete mit universalem Anspruch – wie das «Gebet der Vereinten Nationen für den Frieden» – einen christlichen Hintergrund und wollen eher die religiös unbestimmten Ex-Christ:innen ansprechen. Sie können in interreligiösen Feiern Platz finden, aber christliche Gebete nicht ersetzen. Wenn respektvolles Zuhören und Neugier auf andere Glaubenswelten der Konsens sind, gibt es auch Raum für Jesus Christus mit seiner Menschenfreundlichkeit, seiner Hingabe und seiner ausserordentlichen Gottesnähe. Dass er von Christ:innen als menschgewordenes Antlitz Gottes geglaubt wird, darf man als Wissen bei den Anderen durchaus voraussetzen und muss nicht verschwiegen werden.
Zum Schluss
Für Christ:innen sollte zentral sein, unter welchen Vorzeichen, zu welchem Anlass und in welchem «Geist» eine interreligiöse Feier stattfindet. Antworten auf alles andere gibt, was grundsätzlich als wichtig oder unverzichtbar für einen Gottesdienst befunden wird: Ein Text aus der Bibel als der tragende Grund unseres Glaubens?
Fürbitten, die den Kreis der Anwesenden weiten und auch Abwesende in den Blick nehmen, die Not leiden und der Unterstützung bedürfen? Ein Segen, der die Mitfeiernden in einem befreienden oder beschützenden Geist stärkt? Gerade die katholische Liturgie ausserhalb der genormten liturgischen Bücher ist sehr frei und kann auf Elemente wie Weihrauchkörner, Kerzen, Prozessionen und vieles mehr zurückgreifen. Im besten Fall führen interreligiöse Feiern erneut vor Augen, was in der eigenen Tradition wertvoll und liebenswert ist.
*Ann-Katrin Gässlein, Religionswissenschafterin und katholische Theologin. Sie arbeitet für das Ressort «Kultur und Bildung» der Katholischen Kirche im Lebensraum St.Gallen und als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.