Die Namen von Verstorbenen werden einzeln vorgelesen und aufgeschrieben. Bild der ersten Aktion 2019. Foto: Andreas Krummenacher

«Ich werde diesen Namen nie mehr vergessen»

Über 65'000 Menschen sind seit 1993 auf ihrer Flucht nach Europa ums Leben gekommen. Am Flüchtlingstag vom 22. Juni werden ihre Namen einzeln vorgelesen und auf Stoffstreifen geschrieben. Isabelle Schreier, Projektverantwortliche der Aktion in Bern, über den Sinn solcher Trauerrituale.

 

 

Christian Geltinger*

Bereits seit 2019 gibt es in Bern die Aktion «Beim Namen nennen». Besteht die Gefahr, dass sich nach sechs Jahren so etwas wie Resignation oder gar Normalität einschleicht?

Isabelle Schreier**: In der jährlichen Wiederholung der Aktion schwingt sicherlich ein Gefühl von Ohnmacht mit. Gleichzeitig macht die wiederkehrende Aktion aber auch öffentlich darauf aufmerksam, dass sich an der Situation nur wenig verändert hat, auch wenn die Präsenz des Themas in der Öffentlichkeit seit 2015 deutlich abgenommen hat. Fakt ist, dass nach wie vor Menschen an den Aussengrenzen Europas sterben oder auf dem europäischen Kontinent unter menschenunwürdigen Verhältnissen leben. Dabei müssen wir uns immer wieder vor Augen halten, dass die Flüchtlingsbewegungen nach Europa marginal sind im Vergleich zu den Flüchtlingsbewegungen im Nahen Osten oder auf dem afrikanischen Kontinent. Die meisten Vertriebenen bleiben im eigenen Land oder finden Schutz in einem Nachbarland.

Die Aktion «Beim Namen nennen» ist wie eigentlich ein grosses Trauerritual. Wie können uns Rituale dabei unterstützen, mit unserem Gefühl von Ohnmacht umzugehen?

Isabelle Schreier: Quer durch alle Religionen und Zeiten gibt es gewisse Traditionen, wie wir uns von Menschen verabschieden, wie wir mit unserer Trauer umgehen, wie wir unsere Wut und unseren Schmerz zum Ausdruck bringen. Diese Traditionen helfen uns, den Verlust zu ertragen. Für eine Gesellschaft ist es wichtig, dass wir dieser Trauer Raum geben, ob das nun eine individuelle oder eine kollektive ist. Denn gerade in einer Leistungsgesellschaft sind die Gefühle von Trauer, Schmerz, Unglücklichsein oder Frustration oft ein Tabu. In Bezug auf das Sterben von Menschen auf der Flucht sind es die Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht, die in diesem Trauerritual zum Ausdruck kommen dürfen. Es kann ein Gefühl von Selbstwirksamkeit sein, das wir dabei spüren, auch wenn wir in die konkrete Situation der Betroffenen oft nicht eingreifen konnten.

Wie können Menschen im Rahmen der Aktion konkret helfen?

Isabelle Schreier: Während 24 Stunden lesen wir die Namen von 65'000 Menschen, die auf der Flucht verstorben sind. Man kann sich am öffentlichen Vorlesen der Namen in der Heiliggeistkirche beteiligen, man kann aber auch Bänder mit den Namen beschriften, die als Installation aufgehängt werden. Man kann einfach nur still dasitzen und trauern, man kann aber auch Fürbitten sprechen für die Menschen, die auf der Flucht sind. Ausserdem gibt es in diesem Jahr einen offenen Brief und einen Aufruf an den Bundesrat und die kantonalen Sozialdirektor:innen, um auch ein bewusstes Zeichen in die Gesellschaft hinein zu tragen. Der Basler Bischof Felix Gmür gehört zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs.

Welches Thema steht in diesem Jahr im Mittelpunkt?

Isabelle Schreier: Wir wollen sensibilisieren für die vielen Kinder, die in Europa auf der Flucht sind, und möchten in diesem Zusammenhang zur Einhaltung der UNO Kinderrechtskonvention aufrufen. Diese wurde auch von der Schweiz unterzeichnet. Damit kommt der Schweiz innerhalb Europas auch eine aktive Rolle in der Umsetzung und der Finanzierung zu. Es geht neben dem Überlebensnotwendigsten vor allem um den Zugang zu Bildung und die Fähigkeit zur persönlichen Entfaltung. Ein Kind muss überall Kind sein dürfen. In einem Auffanglager irgendwo in der Provinz ist das nur sehr schwer möglich. Kindern kommt auf Grund ihres Kindseins ein besonderer Schutz zu, auch dann, wenn ihr Aufenthaltsstatus nicht geregelt ist.

Wir erleben in unserem Alltag immer wieder, wie das Thema Flucht von Menschen instrumentalisiert wird. Was können die Kirchen dem entgegensetzen?

Isabelle Schreier: Jesus selbst ist eingetreten für die Schwächsten. Und er ist den gewaltfreien Weg gegangen. Die Fürsorge für Menschen, die auf der Flucht sind, ist eine zutiefst christliche Eigenschaft. Mit «Beim Namen nennen» können wir ein Ventil sein für diejenigen, die verletzt und frustriert sind über die Missstände, und können der leider immer noch sehr stark vorhandenen Diskriminierung von Geflüchteten entgegenwirken.

Gibt es ein Ereignis, das Ihnen im Bewusstsein geblieben ist?

Isabelle Schreier: Im vergangenen Jahr hat mich eine Frau angerufen und mir von zwei Brüdern erzählt, gemeinsam mit nach Europa aufgebrochen ist. Der eine von den beiden hat überlebt, der andere hat auf der Flucht sein Leben verloren. Sie kümmert sich seitdem um den Überlebenden und hat mich gebeten, den Namen des Verstorbenen auf ein Stoffband zu schreiben. Ich werde diesen Namen nie mehr vergessen. 

*Christian Geltinger ist Leiter Kommunikation des Pastoralraums Bern und Region

** Isabelle Schreier ist Projektleiterin bei der “Offenen Kirche” Bern. In dieser Funktion ist sie für die Aktion “Beim Namen nennen” zuständig. 

 

 

Die Aktion “Bein Namen nennen” findet seit 2019 jedes Jahr rund um den Flüchtlingssonntag (dieses Jahr am 22. Juni) statt. Verschiedene Städte in der Schweiz und in Deutschland beteiligen sich. Die Aktion findet in Zusammenarbeit mit UNITED for Intercultural Action - European network against nationalism, racism, fascism and in support of migrants and refugees statt. Gemäss dieser Organisation sind seit 1993 über 65'000 Menschen bei ihrer Flucht nach Europa ums Leben gekommen. In verschiedenen Städten finden öffentliche Lesungen der «Liste der Toten» statt. Dazu werden die Angaben jeder verstorbenen Person auf ein Stück Stoff geschrieben und an einer Installation befestigt.