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Friedenstaube
Kolumne aus der Inselspitalseelsorge
Vor acht Monaten habe ich meine Tätigkeit als Seelsorger am Inselspital begonnen. Seither durfte ich viele Patient:innen begleiten. An einem Samstag klingelte das Piketthandy – ein Patient wünschte einen Besuch. Herr T., ein frisch pensionierter Mann, begrüsste mich mit den Worten: «Danke, dass Sie so schnell gekommen sind. Ich bin in grosser Not!» und begann, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen.
Eines seiner Hobbys ist das Zeichnen von Tierbildern. Oft sei er in der Natur unterwegs, begegnet Tieren, beobachtet ihr Verhalten und versucht, diese Eindrücke anschliessend auf Papier zu bringen. «Wissen Sie, ich zeichne besonders gerne Friedenstauben», erklärte er. Ich fragte verwundert: «Wie sehen die denn aus?» Er dachte einen Moment nach und antwortete dann: «Leider sind sie schon seit Langem schwer verletzt.» Der Patient trug schwer an den aktuellen Konflikten und Kriegen auf der Welt, erwähnte im speziellen die Ukraine und den Gazastreifen und verband damit das Bild der verletzten Friedenstaube.
Dieses Bild hat mich nachdenklich gemacht. Mir kam dazu das türkische Volkslied «Friedenstaube» in den Sinn:
Lass Freundschaften entstehen, lass die
Menschen lachen
Lass die Taube des Friedens in der Welt
fliegen
Lass das Böse vergehen, lass die Feind-
schaft sterben
Lasst die Friedenstaube in die Welt
fliegen
Lass Freundschaften entstehen, lass die
Menschen lachen
Mögen Kriege ein Ende haben, mögen
Menschen nicht sterben
Lass Freundschaften entstehen, lass die
Menschen lachen
Lass Kriege ein Ende haben, lass
niemanden sterben
Für Herrn T. steht die Friedenstaube für Hoffnung – und «die Hoffnung», so sagt er, «stirbt zuletzt». Für mich ist Hoffnung in erster Linie eine Frage des Glaubens. Nur mit Hoffnung lassen sich weite Wege zurücklegen, nur mit Hoffnung lassen sich Meere überqueren und nur mit Hoffnung lassen sich Stabilität und Ordnung erreichen. Man muss einfach glauben.
In seiner Aussage erkannte ich sowohl Hoffnung als auch Glauben. Die Friedenstaube ist schwer verletzt – aber sie ist nicht tot. Herr T. wird mir später einige seiner Zeichnungen von Friedenstauben schicken. Ich bin gespannt – und voller Hoffnung, dass die Friedenstauben wieder gesund und heil werden können.
Rubin Gjeci, Seelsorger im Inselspital