Haile und Nardos Weldetnsae kommen regelmässig in den «Musikgarten». Foto: Elisabeth Zschiedrich

Eine Stunde Unbeschwertheit

Beim «Flüchtlings-Musikgarten» im Kirchgemeindehaus Langenthal können Kinder und Eltern aus dem Rückkehrzentrum Aarwangen ihren belasteten Alltag einen Moment lang vergessen.


Elisabeth Zschiedrich

«Wisst Ihr noch, was Noah sich immer gewünscht hat?», fragt Martina Seeliger-Wittwer, dann bewegt sie sich um die eigene Achse rollend quer durch den Saal. Die anderen Anwesenden lachen und tun es ihr nach. Drei Kinder und fünf Erwachsene sind heute in das katholische Kirchgemeindehaus Langenthal gekommen, um unter Anleitung der Musikpädagogin zu singen und zu tanzen. Sie beginnen wie immer mit dem Begrüssungslied. Für jede Strophe darf jemand eine Bewegung bestimmen, die dann alle im Kreis nachmachen. 

Nardos winkt, Sura klatscht, und Abraham schaukelt auf dem Rücken seiner Mutter. Das wilde Rollen war immer Noahs Ding. Der Fünfjährige geht nun in einen heilpädagogischen Kindergarten und hat donnerstags keine Zeit mehr. Aber alle erinnern sich noch an ihn. Seine Mutter ist extra gekommen, um von ihm zu erzählen. «Martina bewirkt hier Wunder», sagt Maia Shashviashvili. Noah ist von Autismus betroffen; es fällt ihm schwer, sich in sozialen Kontexten zurechtzufinden. Im «Musikgarten» aber habe er sich wohl gefühlt. «Hier hat er sein erstes deutsches Wort gesprochen. Auf einmal hat er ‹Danke› gesagt.» 

Shashviashvili lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern im Rückkehrzentrum Aarwangen, einem von sechs Rückkehrzentren im Kanton Bern. Wie alle, die dort sind, sollen sie dort eigentlich nicht sein. Der Schweizer Staat will, dass sie in ihr Heimatland zurückgehen. Aber eine Rückkehr nach Georgien ist für die Familie undenkbar. Zu viel Leid hätten sie erlebt, bevor sie vor acht Jahren hier landeten, sagt Shashviashvili. 
 


Helfen, wo es geht 

Benvinda Da Costa, die Mutter des vierjährigen Abraham, und ihre achtköpfige Familie sind vor fünf Jahren aus Angola in die Schweiz gekommen. In Aarwangen wohnen sie in drei Zimmern zusammen. Sie leben in der «Nothilfe», bekommen acht bis zehn Franken täglich pro Person. Zwei Kinder gehen in die Schule, die drei älteren Kinder und die Eltern haben wie fast alle Asylsuchenden mit negativem Aufenthaltsbescheid ein Arbeitsverbot. «Eine Katastrophe» sei das, sagt Monika Wälti. «Sie hängen völlig in der Luft und müssen jederzeit damit rechnen, ausgeschafft zu werden.»

Die 58-jährige Aarwangerin engagiert sich seit zehn Jahren in der Flüchtlingsarbeit. Anfangs gab sie den Asylsuchenden in Aarwangen Deutschunterricht. Sie und die mit ihr Engagierten merkten aber schnell, dass es den im Asylzentrum lebenden Menschen an mehr fehlte als an Sprachkenntnissen – etwa an Kontakt oder an Möglichkeiten, sich zu beschäftigen. 

Nicht zuletzt durch die fehlenden Perspektiven und die ständige Angst vor einer Ausschaffung ist das Leben in den Schweizer Rückkehrzentren insbesondere für Kinder und Jugendliche sehr belastend. Das zeigte eine 2024 veröffentlichte Studie.

Um die Asylsuchenden so weit wie möglich zu unterstützen, gründeten einige Engagierte im Kirchgemeindehaus der reformierten Kirche Aarwangen einen Kaffeetreff, zu dem bis heute Menschen aus dem Rückkehrzentrum kommen. «Sie haben die unterschiedlichsten Anliegen, erzählen, dass ihr Kind gerne tanzt oder dass es sich einen Fussball wünscht», berichtet Wälti. Es sei aber schwierig geworden, Freiwillige zu finden, die sich engagieren wollen. 
 


«Die Stärke der Menschen beeindruckt mich» 

Die gelernte Sozialpädagogin versucht zu helfen, wo es geht. Die Arbeit mit den Asylsuchenden sagt sie, sei «genau ihr Ding». Wenn sie die Menschen im Rückkehrzentrum besucht, trifft sie auf grosse Gastfreundschaft. «Es ist unglaublich, wie freundlich und offen sie sind. Ihre Stärke beeindruckt mich sehr.» 

Neben dem Kaffeetreff vermittelt Wälti auch Schwimmkurse, Tanzunterricht und Fussballtrainings, sie organisiert Halbtax-Abos und Zugtickets. Die Kosten dafür werden zum Teil durch eine private Erbschaft finanziert. Alle Aufwendungen für die Kinder übernimmt eine Stiftung aus Langenthal. 

Auf die Idee mit dem «Flüchtlings-Musikgarten» brachte Wälti der Austausch in der «Aktionsgruppe Nothilfe», in der sie sich ebenfalls engagiert. Mit Seeliger-Wittwer hat Wälti genau die Richtige gefunden für die Leitung dieses Angebots für Eltern mit kleineren Kindern. Die 48-Jährige und ihr Mann führen in Bern eine Musikschule, in der sie Musik und Soziales verbinden. Mit den Asylsuchenden aus Aarwangen hat Seeliger-Wittwer keinerlei Berührungsängste. «Es ist grossartig, wie offen Martina auf die Menschen zugeht. Sie hängt nicht an Regeln und geht auf jeden und jede einzeln ein», erzählt Wälti. 
 


Auch dem Leiter des Pastoralraums Oberaargau, Francesco Marra, imponiert das Engagement Seeliger-Wittwers. «Sie ist eine beeindruckende Persönlichkeit. Mit wie viel Elan sie in Langenthal mit den Menschen arbeitet, ist aussergewöhnlich.» Die dreijährige Nardos und ihre sechsköpfige Familie durften das Rückkehrzentrum Aarwangen vor Kurzem verlassen. Sie haben einen positiven Aufenthaltsbescheid bekommen und sind in eine Wohnung in Langenthal gezügelt. 

Nardos Vater Haile Weldetnsae war Priester in der eritreischen Gemeinde, jetzt darf er nach einer bezahlten Arbeit suchen. In den «Musikgarten» kommt er mit seiner Tochter aber weiterhin gern. Ebenso wie Sura, die jüngste Teilnehmerin. Sie ist mit ihrer Mutter vor neun Monaten im Rahmen des Familiennachzugs von Afghanistan in die Schweiz gekommen, ihr Vater lebt schon seit mehreren Jahren hier. Die Kinder aus dem Rückkehrzentrum geniessen den für sie ungewohnt grossen Raum des Kirchgemeindesaals. Sie singen, tanzen und bewegen sich hier gern. 

Seeliger-Wittwer ist darauf vorbereitet: Nach dem Begrüssungslied stellt sie eine Kiste mit Rasseln bereit. Jedes Kind und jedes Elternteil darf sich zwei Rasseln nehmen und das nächste Lied damit begleiten. Seeliger-Wittwer verteilt bunte Tücher, mit denen sich alle zur Musik im Raum bewegen, wie sie wollen. Sie holt HulaHoop-Reifen hervor, durch die die Kinder krabbeln und mit denen sie spielen können. Ganz nebenbei übt sie mit ihnen das Zählen, das Lesen der Uhr, mixt Mundart und Schriftdeutsch und erzählt noch eine kleine Geschichte. Schliesslich ist es Zeit für das Abschlusslied, die Eltern und Kinder verabschieden sich. «Bis nächste Woche!», sagen sie – in der Hoffnung, dass dann noch alle da sein werden.