
Jana Haack, 29, wissenschaftliche Mitarbeiterin für Mittlere und Neue Kirchengeschichte an der Uni Münster, untersucht Bittschreiben verfolgter jüdischer Menschen an den Papst mit. Foto: Pia Neuenschwander
80 Jahre nach dem Holocaust: Die Vergangenheit kennen, um die Zukunft zu bewahren
Ein Forschungsprojekt untersucht Briefe verfolgter Juden und Jüdinnen an den Vatikan. Einige Briefe wurden für den Schulunterricht aufgearbeitet und stehen Lehrpersonen kostenlos zur Verfügung.
Interview: Annalena Müller
Tausende jüdische Menschen aus ganz Europa wandten sich während des NS-Regimes für Hilfe an den Vatikan. Die Bittschreiben stammen von Frauen und Männern, von Kindern und Jugendlichen. Die Verfassenden gehören den unterschiedlichsten jüdischen Glaubensrichtungen, sozialen Schichten und Generationen an. Jeder einzelne Brief erzählt aus der Ich-Perspektive die Geschichte eines einzigartigen Menschen. Diese Briefe waren bisher unbekannt. Sie wurden in den Akten aus dem Pontifikat Pius’ XII. (1939–1958) in den vatikanischen Archiven entdeckt, die seit dem 2. März 2020 der Forschung zugänglich sind. In der Berner Heiliggeistkirche wurden einige dieser Briefe Ende Oktober öffentlich vorgelesen. Das «pfarrblatt» hat danach mit Jana Haack von der Universität Münster gesprochen.
«pfarrblatt»: Was ist das Forschungsprojekt «Asking the Pope for Help»?
Jana Haack: Das Projekt untersucht die Bittschreiben jüdischer verfolgter Menschen, die diese während des Zweiten Weltkriegs an Papst Pius XII. und den Vatikan gerichtet haben. Wir machen sie in einer Online-Edition für die Öffentlichkeit zugänglich.
Um wie viele Briefe handelt es sich?
Haack: Bisher haben wir in den vatikanischen Archiven knapp 9500 Schreiben identifiziert.
Neben der schieren Menge der Schreiben, was sind die besonderen Herausforderungen?
Haack: Die sehr unterschiedlichen Formate und Längen der Schreiben und natürlich die Vielfalt der Sprachen. Manche Briefe sind handschriftlich verfasst, andere mit der Maschine getippt. Wir haben Dokumente, die wenige Seiten umfassen, an dere sind 40 Seiten lang. Nicht alle sind leicht zu entziffern. Und sie sind in so ziemlich allen europäischen Sprachen verfasst. Neben italienisch, deutsch und französisch haben wir auch rumänische, ungarische oder jiddische Briefe.

Warum ist es heute noch wichtig, was damals geschrieben wurde?
Haack: Diese Menschen beschreiben ihre Lebensgeschichte. Nicht nur ab dem Moment ihrer Verfolgung, sondern auch davor. Ihre Briefe geben uns die Chance, Menschen eine Stimme zu geben – deren Andenken die Nationalsozialisten auslöschen wollten –, ihnen Gehör zu verschaffen und ihre Lebensgeschichten öffentlich zu machen. Im Sinne von Gedenken und Erinnerungsarbeit ist dies ein wichtiger Prozess. Ausserdem müssen wir uns mit der Tatsache auseinandersetzen, dass es kaum mehr Zeitzeug:innen gibt und wir immer mehr auf Quellenbestände in Archiven angewiesen sind, um Erinnerungsarbeit leisten zu können. Da sind diese Briefe von unschätzbarem Wert.
Sie arbeiten an der Aufarbeitung des Stoffs für den Schulunterricht. Verlangt das Thema nicht sehr viel Vorwissen von Jugendlichen?
Haack: Die Unmittelbarkeit der Briefe kann eigentlich jede:r verstehen. Und das ist der Teil, mit dem wir einsteigen. Wir setzen stark auf das biografische Lernen und wollen, dass die Jugendlichen sich mit einem Schreiben auseinandersetzen. Sie sollen die Geschichte des Verfassers oder der Verfasserin verstehen und selbst rekonstruieren. Viele Fragen kommen dann automatisch. Zum Beispiel: Wie verlief die Fluchtroute? Auf welche historischen Umstände bezieht sich die Person? Was hat sie erlebt? Wir nutzen dabei die natürliche Neugierde der Schüler und Schülerinnen. Das ist ein grosser Mehrwert im Vergleich zu Geschichtsbüchern oder didaktischen Formaten, die recht abstrakt mit dieser Zahl von über 6 Millionen ermordeten jüdischen Menschen umgehen.
Sie haben bereits Schulmaterial entwickelt. Für welche Altersgruppen eignet sich dieses?
Haack: Das bisher entwickelte Material richtet sich vor allem an Jugendliche der neunten und zehnten Klasse, also für 15- bis 16-Jährige. Neben der Vermittlung von historischem Wissen können wir mit dieser Altersgruppe auch Archivarbeit nachstellen und kleine Einblicke in die Situation im Vatikan geben. Wir werden auch Lektionen für andere Altersgruppen entwickeln. Wir haben zum Beispiel eine Anfrage für die Kinderuniversität an der Uni Münster bekommen. Da ist die Zielgruppe deutlich jünger. Auch ihnen kann man auf einer anderen Ebene etwas zum Thema mitgeben.
Gibt es Unterlagen, auf die auch Lehrpersonen aus der Schweiz zugreifen können?
Haack: In einem Pilotprojekt mit dem Institut für Religionspädagogik haben wir auf der Basis von drei Schicksalen jeweils eine Unterrichtssequenz entwickelt. Diese stehen kostenlos zum Download zur Verfügung, und Schulen können selbstständig damit arbeiten. Darunter sind Arbeitsblätter, falls nur analoges Arbeiten möglich ist, und digitale Anwendungen. Man kann zum Beispiel mit einem digitalen Zeitstrahl Aufgaben bearbeiten und so das Schicksal der Bittstellerin Meta Sommerfeld rekonstruieren.
Das Forschungsprojekt steht relativ am Anfang. Wie lange wird das Team der Uni Münster in den vatikanischen Archiven arbeiten?
Haack: Das Forschungsprojekt läuft seit 2021 und ist bis 2026 mit gut 2,5 Millionen Euro finanziert. Wir rechnen mit einer Anschlussfinanzierung von weiteren fünf Jahren. Aber um wirklich alle Dokumente in den Archiven des Vatikans umfassend erschliessen zu können, bräuchten wir mehr Zeit. Wir rechnen mit 20 Jahren oder mehr.

«Asking the Pope for Help»:
Unterrichtsmaterial Das Forschungsteam um den Kirchenhistoriker Prof. Dr. Hubert Wolf von der Universität Münster hat bereits einige der Bittschreiben für den Schulunterricht aufbereitet, unter anderem die Geschichte von Sr. Antoniazzi Maria und Familie Jacobi. Kostenloser Download