Einzug zum Konklave

Kardinäle beim Einzug ins Konklave 2005. Foto: KNA

«Die Missbrauchsthematik wird bei der Papstwahl zentral sein»

Der «Tagesanzeiger» hat mit «pfarrblatt»-Chefredaktorin Annalena Müller über Papst Franziskus gesprochen. Ein Gespräch über Missbrauch, Frauen und welche Themen der nächste Papst angehen muss.

 

Cyrill Pinto, Bundeshausredaktor «Tagesanzeiger» 

Wir erreichen Annalena Müller, Historikerin und Chefredaktorin des «Pfarrblatt» Bern telefonisch in ihrem Büro – nach der Nachricht, dass Papst Franziskus am Morgen gestorben ist, ist sie sowieso bei der Arbeit und nimmt sich Zeit für eine Einschätzung zur Lage der katholischen Kirche und zur Frage, welche Themen bei der Papstwahl wichtig sein werden.

«Tagesanzeiger»: Frau Müller, hat Papst Franziskus die Erwartungen erfüllt, die viele an ihn gestellt haben?

Annalena Müller: Jein. Innerhalb der Kirche hat er viel bewegt. Anders als seine Vorgänger Johannes Paul II. und Benedikt XVI., die teils revisionistisch gegenüber der letzten grossen Reform, dem Zweiten Vatikanischen Konzil, auftraten, hat Franziskus die Kirche wieder stärker auf diesen Pfad zurückgeführt. Mit der Einsetzung von Frauen wie Raffaella Petrini als Regierungschefin der Vatikanstadt und mit der Weltsynode, bei der erstmals auch Nichtbischöfe Stimmrecht erhielten, hat er strukturelle Reformen angestossen. Ausserhalb der Kirche, insbesondere in Europa, blieben viele Hoffnungen unerfüllt.

An welche Themen denken Sie da?

Müller: Das Priesteramt bleibt Männern vorbehalten, der Pflichtzölibat wird weiterhin nicht grundsätzlich infrage gestellt – Erwartungen, die Franziskus nie klar versprochen hatte, aber die viele dennoch hegten. In der deutschsprachigen Kirche war die Enttäuschung gross, insbesondere nach den Missbrauchsskandalen, die zu einem regelrechten Exodus führten.

Was bleibt von den kirchlichen Reformbewegungen, etwa zur Beteiligung der Frauen?

Müller: Man muss verstehen: Die katholische Kirche funktioniert anders als ein säkularer Staat. Vieles gilt als wahr, weil es in der Tradition, eine der katholischen Offenbarungsquellen, begründet liegt. Also, weil es immer so war. Reformen wie die Priesterweihe für Frauen wären massive Brüche mit der Tradition – und könnten tatsächlich zu einer Spaltung der Kirche führen. Trotzdem hat Franziskus Frauen in der Kirche Zugang zu Autorität und Macht gegeben, indem er sie von der Weihe gelöst hat. Beispiele sind die Berufung von Nathalie Becquart als Untersekretärin der Bischofssynode oder von Simona Brambilla als Leiterin des Dikasteriums für Ordensleute – ihr Amt ist mit dem eines Bundesrats oder zumindest eines Staatssekretariat zu vergleichen. Frauen erhielten unter Papst Franziskus erstmals politische Macht – ein Novum, das es in dieser Form zuletzt im Mittelalter gab. Die Weihefrage selbst, also die Frage, ob Frauen auch zur Priesterin geweiht werden können, hat er aber bewusst ausgespart – wohl auch, um ein drohendes Schisma zu verhindern.

Hat Papst Franziskus beim Thema sexueller Missbrauch versagt?

Müller: Das war der grösste Schwachpunkt dieses ansonsten bemerkenswerten Pontifikats. Auch in seiner letzten Autobiografie, die im Januar erschien, widmet Papst Franziskus dem Thema nur wenige Seiten – ganz anders als etwa dem Frieden oder dem Schutz von Migranten. Ein echtes, von Herzen kommendes Plädoyer gegen Missbrauch fehlt. Bei diesem Thema war es meiner Meinung nach immer zu wenig, immer zu zögerlich, was von ihm kam. Das Thema wird bei der Papstwahl eine grosse Rolle spielen – das betont auch der renommierte Missbrauchsexperte Hans Zollner.

Inwiefern wird die Missbrauchsthematik bei der Papstwahl Thema?

Müller: Sie wird zentral sein. Ein Super-GAU wäre es, wenn ein Kandidat selbst Fälle vertuscht hätte. Unabhängig von der theologischen Richtung – ob progressiv oder traditionell – wird das Kardinalskollegium genau hinschauen. Franziskus hat viele neue Kardinäle ernannt, auch aus Asien, Afrika oder Lateinamerika – viele von ihnen sind hierzulande weitgehend unbekannt und schwer einzuschätzen. Klar ist: Es wird ein Richtungskampf. Die konservativen Stimmen, etwa in den USA oder aus Australien rund um den verstorbenen Kardinal George Pell, sind noch immer einflussreich. Aber es gibt auch viele, die den eingeschlagenen Weg weitergehen wollen. Es wird sehr spannend.

Welche Themen muss der nächste Papst dringend angehen?

Müller: Das ist regional sehr unterschiedlich. In Europa und Teilen Lateinamerikas gibt es einen eklatanten Priestermangel, viele junge Menschen – vor allem Frauen – fühlen sich von der Kirche entfremdet. In anderen Weltregionen wächst die Kirche. Dieser extremen Heterogenität gerecht zu werden, ohne dass die Kirche zerbricht, das wird eine riesige Herausforderung für den neuen Papst.

Neben dem Missbrauch: Welche Themen werden sonst noch wichtig sein?

Müller: Die Rolle der Frau ist zentral. Franziskus hat sie gestärkt, aber vieles bleibt offen. Zudem hat er sich stark für soziale und ökologische Gerechtigkeit eingesetzt – etwa mit seiner Umwelt-Enzyklika «Laudato si’» oder dem wirtschaftskritischen «Evangelii Gaudium». Themen wie Klimawandel, Armut und Ungleichheit prägten sein Pontifikat. Ich persönlich befürchte, dass ein konservativer Kandidat gewählt wird. Aber ich hoffe auf jemanden, der den Kurs von Franziskus weiterführt. Ich würde darauf aber nicht wetten. Zwar hat Franziskus keine Kardinäle ernannt, die ihm offen widersprechen würden. Doch das Kardinalskollegium ist komplex – zum einen ringen konservative und progressive Kräfte darum, einen neuen Papst ins Amt zu heben. Gleichzeitig spielt die spirituelle Ebene bei den Kardinälen im Konklave eine wichtige Rolle: Der Heilige Geist wacht und beeinflusst die Wahl. Die Überzeugung darf man nicht ausser Acht lassen.

Und was ist mit dem Schweizer Kardinal Kurt Koch – könnte er zum nächsten Papst gewählt werden?

Müller: Kardinal Koch gehört theoretisch zu den «papabili», aber mehr als Aussenseiterchancen werden ihm nicht eingeräumt. Als aktuell grosser Favorit wird Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin gehandelt. Aber man weiss ja: Wer als Papst ins Konklave geht, kommt als Kardinal wieder heraus.

Das Interview erschien am 21. April im «Tagesanzeiger»