
Francesco Marra leitet den Pastoralraum Oberaargau. Foto: Pia Neuenschwander
«Die migrantische Kirche ist eine offenere Kirche»
Die Kirche wird bunter und migrantischer. Die unterschiedlichen Perspektiven seien eine Chance, findet Pastoralraumleiter Francesco Marra.
Interview: Annalena Müller
«pfarrblatt»: Eine Umfrage zeigt: Deutschschweizer:innen haben ein negatives Kirchenbild, katholische Migrant:innen ein positives. Woran liegt das?
Francesco Marra*: Das hat viel mit Kommunikation zu tun. Kommunikation aus der Kirche und in den Medien über die Kirche. Manche nehmen eine Kirche wahr, die um Erneuerung ringt und den schwierigen Weg der Klarheit gewählt hat, Andere die eine «katholische» Identität, die über sprachliche, nationale und kulturelle Grenzen hinausgeht. Beides stimmt, und beides müssen wir berücksichtigen.
Migrant:innen gelten vielen als lehramtstreu und mit dem besonderen Schweizer System fremdelnd. Ist das auch Ihre Erfahrung?
Marra: Nein. Natürlich gibt es einige, denen die eine oder andere Praxis fremd ist – Gemeindeleitung durch Lai:innen, Wortgottesdienste usw. Aber das sind nicht nur Migrant:innen. In meiner Erfahrung sind Katholik:innen mit Migrationshintergrund sogar besonders offen.
Was meinen Sie damit?
Marra: Migrant:innen kennen und vereinen oft mehrere Traditionen. Ein einfaches Beispiel: In Süditalien, wo ich herkomme, ist es Tradition, dass die Krippe am 8.Dezember aufgestellt wird – ohne Jesuskind, aber mit Maria und Josef. Am 24. Dezember kommt das Jesuskind hinzu und am 6. Januar die Heiligen Drei Könige. Die Krippe bleibt bis zum 2. Februar – Mariä Lichtmess – aufgestellt. Das Ganze folgt der liturgischen Weihnachtszeit. In der Schweiz habe ich gelernt, dass es hier anders ist. Die Krippe wird frühestens am vierten Advent, oft aber auch erst an Heiligabend aufgestellt – und am 6. Januar muss alles weg. Eine wichtige Frage ist, wie wir verschiedene Traditionen interpretieren. Es ist alles eine Frage der Hermeneutik…
…dem Verstehen und Interpretieren der Kirchentradition.
Marra: Genau. Wir haben in der Kirche eine Gruppe von Leuten, die einer Hermeneutik des Bruchs folgen. Eine andere Gruppe folgt der Hermeneutik der Reform und Erneuerung. Das klingt jetzt kompliziert. Aber es ist wie im Beispiel. Die Kirche hat seit jeher Platz für viele Traditionen, die sich gegenseitig befruchten können. Für unsere Kirche kann das im Grossen wie im Kleinen interessant sein. Vor allem, wenn wir wegkommen von der Idee «Progressive» gegen «Konservative», «Schweizer» gegen «Migranten» und hin zu einer Wahrnehmung, dass es in der katholischen Kirche nie nur eine Tradition gab.
Sind wir auf dem Weg zu innerkirchlichen Parallelstrukturen?
Marra: Ich glaube nicht. Zumindest erlebe ich es im Pastoralraum Oberaargau nicht so. Ich erlebe vor allem Flexibilität. Die Priester der kroatischen oder italienischen Mission bei uns entscheiden zum Beispiel jeweils spontan, in welcher Sprache sie den Gottesdienst halten. Wenn nur kroatische oder italienische Familie anwesend sind, machen sie es in der jeweiligen Muttersprache. Oft aber sind auch Familien aus anderen Sprachräumen da. Dann machen sie den Gottesdienst auf Deutsch, Italienisch, Polnisch, Kroatisch. Für mich ist diese Flexibilität beides: sehr katholisch und sehr typisch für die migrantische Kirche, die eine offene Kirche ist.
* Der Italiener Francesco Marra lebt seit 29 Jahren in der Schweiz. Er ist Leiter des Pastoralraums Oberaargau und Mitglied des «pfarrblatt»-Vorstands.