Das Lob des schweigenden Gottes
Was von unserer Zivilisation übrigbleibt
Was werden Menschen in ein paar tausend Jahren finden, wenn sie die Überreste unserer Zivilisation ausgraben? Worüber werden sich ihre Archäolog:innen wundern? Womit geben wir ihnen Rätsel auf? – Das ist ein spannendes Gedankenspiel, das uns einlädt, einen unbefangenen Blick auf unsere Gegenwart zu werfen.
von Michael Hartlieb*
Ich glaube, dass künftige Archäolog:innen absolut verblüfft sein werden über die riesigen Text- und Bildmassen, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts tagtäglich produziert und konsumiert wurden. Nachrichten und Fotos vom Sonnenaufgang an die Freundin, der Blick in die digitale Zeitung in der S-Bahn, dann dienstliche Mails in Hülle und Fülle, dazwischen immer wieder der Blick in die sozialen Netzwerke und auf die Nachrichten … Ein Leben gehüllt in einen «Kokon» aus Texten und Fotos mit glattgeleckter und strahlend schöner Oberflächlichkeit.
Dieser Kokon, so finden die Forscher:innen heraus, regelt alles: den Büroablauf und die Tagesstruktur, den Fluss der Neuigkeiten und Gerüchte, die Politik und die Liebe; er urteilt, stellt bloss und schmiegt sich an – er bestimmt, was wahrgenommen wird und schliesslich sogar als Wahrheit gilt. Aufregend wird es für die Archäolog:innen der Zukunft, als sie herausfinden, dass es mit den sogenannten «Kirchen» auch noch Orte gegeben hat, die offensichtlich anderen Zweck dienten.
Sie fallen ihnen deshalb auf, weil die dort gefundenen Texte so gar nicht zu denen des Kokons passen wollen. Sie wirken spröde, irgendwie fremdartig und geheimnisvoll, aber zugleich auch zugänglich. Nach intensiver Forschungsarbeit wird klar, dass diese Texte nach den Massstäben der Vergangenheit auf eigentümliche Weise fasziniert haben müssen. Nicht ganz klar aber ist, was die Menschen an die Orte dieser Texte gezogen hat.
Ein Meilenstein in der Erforschung dieser Frage ist der Fund einer alten Übersetzung von etwas, das als «Bibel» bekannt gewesen sein muss. «Gott», das höchste Wesen, an das viele Menschen der Vergangenheit glaubten, wird dort als «Stimme verschwebenden Schweigens» bezeichnet. Mit diesem Verständnis-Schlüssel setzt sich in der Zukunft schnell eine bestimmte Forschungshypothese durch: Die Menschen des frühen 21. Jahrhunderts verspürten offensichtlich eine unstillbare Sehnsucht nach einem Ort, an dem ihr alltäglicher Kokon aus Texten und Fotos für einen kurzen Moment durchbrochen werden konnte.
Wer den Kontakt zu einem «Gott» suchte, der als «verschwebendes Schweigen» gepriesen wurde, der hoffte offenbar genau auf das Gegenteil einer strahlend schönen, lauten Oberflächlichkeit. Der suchte nach einem Leben, das um seiner selbst willen lebenswert erschien – in dem Freude, Ängste, Sorgen und Hoffnungen in zupackender und zugleich ruhiger Anteilnahme geteilt werden konnten. In dem gemeinsam mit anderen die Erhabenheit des Lebens und der Schöpfer des Daseins gefeiert werden konnten.
Diese Hypothese wird unter den Forscher:innen der Zukunft akzeptiert, weil man eben eine genaue Vorstellung von dem Kokon hatte, der im Gegensatz zu diesem «Lob des schweigenden Gottes» stand. Verwundert schliesst deshalb ein Aufsatz aus dem Jahr 5357 n.Chr. mit folgender Einschätzung: «Die Menschen des 21. Jahrhunderts geben uns bis heute ein unlösbares Rätsel auf. Letztlich nicht zu klären ist, warum sie auf der einen Seite nach Echtheit, liebevollen Beziehungen miteinander und einem friedvollen Dasein strebten, es aber auf der anderen Seite nicht schafften, ihre Dauerkonfrontation mit exakt entgegengesetzten Verhaltensweisen zu durchbrechen. Es hätte Orte (z.B. die sogenannten «Kirchen») und viele andere Gelegenheiten dafür gegeben, aber jene wurden nur unregelmässig genutzt. Und die Menschen waren scheinbar oft zu wenig kreativ, um die Gelegenheiten zu ergreifen und an diesen Orten ihre eigenen Bedürfnisse auszuleben. Es wird dringend weitere Forschung benötigt.»
*Dr. theol. Michael Hartlieb ist Bereichsleiter Theologische Grundbildung am Theologisch-pastoralen Bildungsinstitut TBI, Zürich