Stich, 19. Jahrhundert: Europäische Emigranten unterwegs nach Amerika. Bild: iStock

«An den Strömen Babels, da sassen wir und weinten…»

Auswanderung – das Los von Schweizer Familien im 19. und 20. Jahrhundert.


Beatrice Eichmann-Leutenegger

Verführerisch locken die Törtchen im Schaufenster der Confiserie von Rouen. Schon spürt man die schmelzende Schokolade auf der Zunge. Aber da war doch dieser 14-jährige Junge aus dem Oberengadin, der 150 Jahre zuvor in der Backstube geschuftet hatte? Gians Mutter Lisabetta hatte früh ihren Mann verloren und fürchtete, dass ihr Sohn sich als Bauernknecht verdingen musste. Deshalb griff sie zu, als ein Postillon sie auf die Möglichkeit in der normannischen Stadt wies. 20 Franken gab sie Gian als Reisegeld mit, bevor er von Sils den Weg über den Julierpass einschlug. Bis zur ersten Alp begleiteten die Dorfbewohner den Auswanderer, wie es der Brauch verlangte, aber «alle wussten, dass von den vielen jungen Menschen, die so wie Gian die Heimat verlassen mussten, lange nicht alle jemals wieder zurückgekommen waren.» 

Mehr erfährt man in Marcella Maiers (1920–2018) Bündner Familiensaga «Das grüne Seidentuch» (2008). Die Täler in Graubünden, Glarus, Wallis, Bern und Tessin zählten zu den typischen Auswandererregionen. Zwingende Gründe waren Missernten, Hunger, Kinderreichtum, fehlende wirtschaftliche Aussichten für die Jugend. Kein anderer Tessiner hat diese Schicksale so eindringlich geschildert wie Plinio Martini (1923–1979). In seinem Roman eines Rückkehrers, «Nicht Anfang und nicht Ende» (dt. 2006), bekennt sich der Ich-Erzähler zu jener Krankheit, die alle Auswanderer ergriff und schon die Söldner in fremden Diensten gequält hat: 

«Ich sage dir, in Amerika trugen wir Auswanderer unser Heimweh wie eine Krankheit in uns herum, und mit einem reden zu können, der aus unserer Gegend kam und unsere Art kannte, das war nicht das Gleiche wie mit anderen Leuten (…). Es zog uns zueinander, wir brauchten uns nur in die Augen zu schauen, um uns weniger einsam zu fühlen.» 

Die «Schweizer Krankheit»

Das Mundartlexikon der Schweiz, das Idiotikon, führt als frühesten Beleg des Begriffs «Heimweh» das Jahr 1651 an. Später drang das Wort auch in den Sprachgebrauch anderer Länder ein. Generationen von Kindern weltweit litten mit jenem Mädchen aus dem Kinderbuchklassiker «Heidi» (1880), das sich in der fremden Stadt Frankfurt nach der Alp, den Bergen, den Ziegen Bärli und Schwänli so sehr sehnte, dass der Arzt entschied, Heidi wieder zum Alpöhi zurückzubringen. 

Die «Schweizer Krankheit», so wurde das Heimweh genannt, plagte die Emigranten, weshalb sie immer wieder in den Auswanderer-Romanen erwähnt wird. So im Werk der Bernerin Therese Bichsel (*1956), deren Buch «Überleben am Red River» (2018) auf einer wahren Geschichte aus den 1820er-Jahren basiert.
 


Familien aus dem Bernbiet und dem Neuenburgischen brechen im Mai 1821 in die kanadische Kolonie des Red River im Gebiet des heutigen Winnipeg auf, weil die Hungerjahre von 1816/17 mit ihren wetterbedingten kargen Ernten sie forttreiben. Bei Wintereinbruch erreichen die 170 Menschen völlig erschöpft ihr Ziel. Die Not, die sie im  vermeintlichen Schlaraffenland vorfinden, übersteigt bei Weitem jene zu Hause. Und nach einem harten Winter bricht die Schneeschmelze herein, sodass der reissende Red River die Häuser der neuen Siedler wegspült. 

Um ihre Hoffnungen sind diese Auswanderer geprellt worden. In Therese Bichsels packendem Roman gaukelt der Berner Patrizier Rudolf von May ein Paradies vor: mit fruchtbaren Böden, ergiebiger Jagd und Fischerei, gesundem Klima. Die Siedler würden sich «allda sehr glücklich befinden.» Später vermitteln Werbebroschüren von Agenturen und SchifffahrtsGesellschaften sowie Berichte in Auswanderer-Zeitschriften schönfärberische Informationen. 

Utopie vom Paradies

Auch in ihrem Roman «Die Walserin» (2015) greift Therese Bichsel Emigranten-Schicksale auf, diesmal aus dem Lötschental. Die Wege dieser Familien führen um 1300 vorerst ins Lauterbrunnental, Jahrhunderte später in den Kaukasus, wo die Nachfahren im Gefolge der Russischen Revolution enteignet und Ende der 20er-Jahre erneut zur Aus- bzw. Rückreise gezwungen werden, oft bettelarm. Ja, die Schweiz war ein Land der Auswanderer. Warum aber haben diese Menschen solche Strapazen auf sich genommen? Mit der Aussicht, der Not zu entkommen, verknüpft sich die Hoffnung auf ein menschenwürdigeres Leben. Die Glarnerin Eveline Hasler (*1933) wählt daher für ihren atmosphärisch dichten Roman den Titel «Ibicaba. Das Paradies in den Köpfen» (1985). 

1855, als die einheimische Textilindustrie unter der englischen Konkurrenz ächzt, wandert eine Gruppe von Glarnern, Zürchern, Aargauern und Bündnern nach Brasilien aus. Ihre Gemeinden haben zuvor die Wälder abgeholzt, um den Hungerleidern die Reisekosten vorschiessen und sie abschieben zu können. Die Hoffnungen ruhen nun auf Senator Vergueiro, dem «Wohlthäter der Armen». Doch als die erschöpften Reisenden nach der Überfahrt im Hof des Senators warten müssen, kriegt die Utopie vom Paradies auf Erden Risse: 

«Alles war fremd, kaum hatten sie den Fuss in dieses Land gesetzt. Im Munde des Senators waren selbst ihre Namen nicht wiederzuerkennen. Stunden um Stunden waren sie dagestanden, hatten auf die Verfügungen des Herrn gewartet, unter diesem fremden Himmel, der, gegen Abend hin, gelblich wurde wie ein krankes Auge. Bis die Kinder zu schreien angefangen hatten vor Hunger, die Frauen fast umfielen vor Müdigkeit.» 

20 Jahre lebt die aus Aeschi b.Spiez stammende Sophie in Wisconsin, wohin sie 1911 ausgewandert ist – von ihrem Mann verstossen, von den Dorfbewohnern mit übler Nachrede traktiert. In den Heimaturlauben präsentiert sie sich als lebenslustige Dame von Welt, aber dieses Bild trügt. Bis zum Tod fühlt sich Sophie als eine Vertriebene. 

Ihr Gesang verkümmert, bleibt nur noch ein elegisches Zeichen ihrer Sehnsucht. Diese weist in der Sterbevision, als Eiger, Mönch und Jungfrau aufscheinen, ahnungsvoll auf die ewige Heimat: 

«Sie sah den Himmel, und das Heimweh, das seit vielen Jahren an ihr gezehrt hatte, verschob sich langsam von den Bergen hinauf ins endlose Blau.» 

Die Bernerin Katharina Zimmermann (1933–2022) hat in ihrem Roman «Kein Zurück für Sophie W.» (2000) die authentische Geschichte ihrer Grosstante gestaltet. Sie ist eine der Figuren im reichen Werk dieser Autorin, die zum Auf- und Ausbruch gezwungen werden; man denke an Madleni Schilt aus dem Täuferroman «Die Furgge» (1989). Einmal schaut Sophie aufs vorbeiziehende Wasser und erinnert sich an die Psalmworte aus dem Konfirmationsunterricht: «An den Strömen Babels, / da sassen wir und weinten» (137, 1). Sie weiss, dass sie bis zum Tod in der Verbannung ausharren muss.