Foto: iStock

Allein durchstehen?

15.05.2025

Aki-Kolumne von Benjamin Svacha


In einer SRF-Sternstunde aus dem Jahr 2023 unterhält sich der französische Neurologe und Psychiater Boris Cyrulnik mit SRF-Moderator Yves Bossart über Traumata und Resilienz. Boris Cyrulnik, ein heute 87-jähriger Jude, der als kleiner Junge seine Eltern im Holocaust verliert und nur durch fast unglaubliche Umstände selbst überlebt, bezeichnet das Interview am Ende als das beste, welches er je geführt habe. Ein gelungenes Gespräch, gegenseitiges Interesse, ein warmer Tonfall und vermutlich auch schlichtweg Sympathie unter den beiden Männern. Fast schon Geborgenheit, trotz der Kameras um sie herum.

Wie eng Geborgenheit und gute Gespräche zusammenhängen und dass sie weit mehr als ein schöner Zeitvertrieb sind, wird in dieser «Sternstunde» immer deutlicher: Wenn ein Mensch ein traumatisches Erlebnis macht, dann ist aus neurologischer Perspektive das nahezu alternativlose Mittel, um gut weiterleben zu können: Menschen zu haben, die in dieser Zeit da sind, mit denen man (früher oder später) über das Erlebte sprechen kann. Boris Cyrulnik formuliert es ziemlich drastisch: «Wenn jemand im Stich gelassen wird, dann gibt es praktisch keine Möglichkeit der Resilienz». Das Gehirn bleibt nachweislich blockiert, das Erlebte überschattet das gesamte Leben. Es folgen Ohnmachtsgefühle, die Situation wird nie gelöst. Resilienz dagegen bedeutet, neue Erfahrungen machen zu können – trotz des schlimmen Erlebnisses. Anders formuliert: Boris Cyrulnik wird immer der Mensch bleiben, der seine Familie durch Nazi-Verbrecher verloren hat. Aber dabei ist es nicht geblieben: Er wurde, nebst vielem anderem, ein renommierter Neurologe und Psychiater. Er ist nicht bei dieser prägenden Geschichte stehengeblieben, sondern konnte dieser «Kindheitsgeschichte» viele weitere, ebenso prägende Geschichten hinzufügen.

Jesus begegnet einmal einem Mann, der seit 38 Jahren krank ist und gemeinsam mit anderen Gelähmten und Krüppeln herumliegt. «Als Jesus ihn dort liegen sah und erkannte, dass er schon lange krank war, fragte er ihn: Willst du gesund werden? Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich, sobald das Wasser aufwallt, in den Teich trägt. Während ich mich hinschleppe, steigt schon ein anderer vor mir hinein. Da sagte Jesus zu ihm: Steh auf, nimm deine Liege und geh!» (Joh 5,5–8)

Diese Szene ist eindrücklich nahe an dem, was Cyrulnik aus neurologischem Blickwinkel erklärt: 38 Jahre ist ein Mensch gelähmt, kommt nicht von der Stelle. Und weshalb? Weil er allein liegen gelassen wird, weil keiner sich für ihn interessiert. Sich allein Hinschleppen ging nicht, erst die Begegnung führt ihn aus seiner Situation heraus, in der er so lange gelähmt ausharren musste.

Kolumnen aus dem aki im Überblick