«pfarrblatt»: Woher kommt das Phänomen Placebo?
Olaf Knellessen: Der Begriff reicht bis ins Mittelalter zurück. Bei Trauerfeiern wurden sogenannte Placebo-Sänger:innen oder Mietkläger:innen engagiert: Im Auftrag und gegen Bezahlung der Hinterbliebenen betrauerten diese lautstark mehrtägig die verstorbene Person. Dabei sangen sie unter anderem einen Vers aus dem Psalm 116 «Placebo Domino in regione vivorum» – «Ich werde dem Herrn gefallen im Land der Lebenden».
Welchen Zweck hatte das Mitsingen der Placebo-Sänger:innen für die Hinterbliebenen?
Knellessen: Zum einen kann man in einem Verlust versinken, nicht herauskommen, nicht mehr singen und nicht trauern – und dabei sich und die anderen mit verlieren. Der Gesang der anderen wirkt dem entgegen, hilft: Man kann sich an diese stellvertretende Trauer anlehnen und mittrauern. Das Gemeinsame verstärkt die Trauer – und damit die Intensität von Tod und Leben. Mit der Trauer lebt der Verstorbene zugleich wieder auf und weiter. Und man selbst lebt weiter, statt in sich hineinzufallen und gleichsam mitzusterben. Was bei einer Depression, die bei Freud noch Melancholie hiess, durchaus der Fall sein kann. Im Gesang können beide Seiten der Beziehung zum Verstorbenen weiterleben: die Freude, aber auch die Trauer, die man empfindet.
Vom erwähnten Trauergesang zur heutigen Verwendung des Placebos in der Medizin?
Knellessen: Im Grunde ja: In der Medizin setzt man mit dem Placebo an die Stelle eines Medikaments etwas anderes, das Wirkung zeigt – nicht über Stoffwechselprozesse, sondern über Erwartungen, Bedeutungen und Vorstellungen. Demnach etwas, das wirkt, obwohl keine pharmakologisch wirksame Substanz darin enthalten ist. Das ist faszinierend, anziehend und zugleich irritierend. Placebos markieren eine andere Wirkungsweise, wie es der Ursprung eben andeutet – «ich werde gefallen». Die Wirkung ist auf den Wunsch, Gefallen zu finden, ausgerichtet – eine ästhetische Dimension, im Unterschied zu Medikamenten, die durch naturwissenschaftlich erprobte Mechanismen wirken.
An anderer Stelle schreiben Sie aber, dass die naturwissenschaftliche Medizin eben auch gefallen will.
Knellessen: Genau, auch die streng naturwissenschaftliche Medizin bleibt nicht frei von diesen relationalen und ästhetischen Effekten. Schon der Begriff Kunstfehler verrät, dass ärztliche Praxis eben auch Kunst ist. Ausserdem überholen Medikamente oft ihre eigene pharmazeutische Wirkung: Patient:innen berichten manchmal schon zwei Tage nach Beginn der Einnahme eines Antidepressivums von einer Besserung – pharmakologisch unmöglich. Da hat offenbar das Verschreiben selbst gewirkt: die Arzt-Patient-Beziehung, der Akt des Verordnens. So, als ob die behandelte Person den Erwartungen des Analytikers, den Wünschen an die Wirkung des Medikaments gefallen möchte.
Wie zeigt sich die ästhetische Dimension konkret?
Knellessen: In der Gestaltung der Verpackungen und der Medikamente selbst: Den Farben, Formen und Darstellungen wird viel Aufmerksamkeit geschenkt. Dies wäre ja überflüssig, wenn «nur» die Substanz zählen würde. Dies zeigt: Auch die Inszenierung der Medizin trägt zur Wirkung bei – sie soll Nüchternheit, Objektivität und Wissenschaftlichkeit vermitteln. Es genügt der Substanz offenbar nicht, «für sich allein» zu sprechen, sie will auch gefallen.
Welche Rolle spielt bei diesem Gefallen-Wollen der religiöse Hintergrund von Placebo?
Knellessen: Der religiöse, mittelalterliche Psalm «Ich werde dem Herrn gefallen …» setzt einen Dritten als Bezug ins Spiel: eine Instanz der Vermittlung. Wie der Arzt zwischen Patient:innen und Medikament vermittelt, vermittelt im Ritual der Gesang zwischen Hinterbliebenen und Gott. Entscheidend ist: Aus Fantasie – dem Gesang, der Anrufung – wird Wirklichkeit: Menschen weinen, eine Gemeinschaft entsteht. Botschaften werden real.
Worin unterscheidet sich dann der Glaube ans Placebo vom Glauben an Gott?
Knellessen: William James, der Begründer der wissenschaftlichen Psychologie, formulierte den Unterschied sinngemäss so: «Beim Glauben an Gott sagen wir nicht, Gott existiert, weil ich glaube. Sondern: Weil er existiert, glaube ich.» Beim Glauben ans Placebo vertrauen wir auf die konstruierende, pragmatische Kraft des Glaubens: Der Glaube, die Einbildung, stiftet erst die Wirklichkeit. Wo wirkt dieser Placebo-Effekt in Ihrem Alltag als Psychoanalytiker? Man könnte – etwas ketzerisch in Zeiten naturwissenschaftlicher Legitimierung – sagen: Psychotherapie ist ein Placebo. Nicht entwertend gemeint, sondern präzise. Wir machen aus dem Klagelied, das wir hören, etwas anderes – durchaus etwas Schönes. Wir arbeiten mit dem Ungreifbaren, dem Unbewussten, das zugleich so ungemein stark wirkt. Ein schönes Beispiel sind Träume. Wüssten wir bei jedem Traum sofort, was er «bedeutet», wären diese nicht so wirkungsvoll.
Das Erkunden der Leerstellen macht es erst spannend?
Knellessen: Exakt, so ist es. Hinzu kommt, dass wir als Therapeut:innen fast wie Placebo-Sänger:innen angestellt werden. Wir nehmen an einem Prozess teil, der letztlich auch uns selbst betrifft: Als Therapeut:innen lernen wir mit, gestalten mit, erfahren etwas – gerade auch über uns selbst, denn auch im Menschen, der therapiert, entfaltet sich eine Wirkung.
Die Standardfrage wäre dann: «Wie grenzen Sie sich ab?»
Knellessen: Es geht nicht um Abgrenzung, sondern ums Mit- und Hineingehen. Weil Heilung selten aus Distanz entsteht. Natürlich brauchen wir professionelle Rahmung und Sicherheit – keine Frage. Aber das Entscheidende ist das Mitgehen: Ich lasse mich berühren, ich gehe hinein ins Klagelied, statt am Rand zu bleiben. Aus dem Mitgehen entsteht Beziehung – und Wirkung. Viele Kolleg:innen kennen das: Man geht nach einem dichten Tag nicht erschöpft, sondern «gut» nach Hause, weil man gegeben hat, was man geben konnte. Das ist anstrengend – aber auch das, was die Sache interessant macht.
Zur Person
Olaf Knellessen, 1951, Psychoanalytiker mit eigener Praxis in Zürich, Mitbegründer und -organisator von «The Missing Link» mit eben diesem Interesse an der Medialität dieses Missing Links, um den es in der Psychoanalyse – in Praxis und Theorie – geht.
Letzte Publikation: «Traumstationen – Geheimagent Traum», das nicht nur ein Buch, sondern ein Traumobjekt ist.