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Luca Panarese vermutet, dass die Missione Cattolica Bern versteckten Kindern geholfen hat. Foto: Sylvia Stam

Unsichtbare Kinder: Von Saisonniers zu Sans Papiers

Italienische Saisonniers mussten ihre Kinder in der Schweiz verstecken. Eine Ausstellung der Missione Cattolica Bern gibt ihnen Stimme und Gesicht.

 

«Für mich bestand die Schweiz aus einem einzigen Zimmer, zwei Betten, einem Schrank, einem Tisch mit vier Stühlen und einem Fernseher». Dies erzählt Francisco, der sich als Kind von Saisonniers verstecken musste. Als er später mit seinen Eltern über diese Zeit spricht, sagte ihm seine Mutter, dass er «als Fünfjähriger stundenlang nichts anderes tat, als ein Spielzeugauto auf dem Boden hin und her zu schieben.» Er habe nicht einmal gewusst, wie man richtig spielt. 

Francisco ist eines von geschätzt 50'000 Saisonnier-Kindern, die sich zwischen 1949 und 1975 illegal in der Schweiz aufhielten und sich deshalb verstecken mussten. Seine Geschichte erzählt er im Buch «Verbotene Kinder» von Marina Frigerio Martina. Zitate daraus waren bis Anfang Oktober in der Ausstellung «Celeste» in der Missione Cattolica di Lingua Italiana in Bern zu lesen. 

Ein Comicband von Pierdomenico Bortune und Cecilia Bozzoli, der die Geschichte des versteckten Mädchens Celeste erzählt, ist die Grundlage für die Ausstellung. Diese macht das dunkle Kapitel der versteckten Kinder in den Jahren des Schweizer Saisonnier-Statuts sichtbar. Mehr noch: Es stellt sie in einen grösseren Zusammenhang. 

Vom Sichtbaren zum Unsichtbaren

Sie beginnt mit dem Sichtbaren: Alte Koffer im Stil der 1950er Jahre, eine Comic-Zeichnung mit zwei Frauen, die unter dem SBB-Schild des Bahnhofs Chiasso warten, Zeitungsartikel, die an das Unglück von Mattmark im Jahr 1965 erinnern, als eine Eislawine 88 Menschen, darunter 56 Gastarbeiter:innen aus Italien, begrub und die Situation der Saisonniers ins mediale Rampenlicht rückte. 

Wer den kleinen schwarzen Fussabdrucken, die am Boden des Theatersaals aufgeklebt sind, folgt, gelangt allmählich zu dem, was damals nicht sichtbar war: Leere Kleiderbügel, eine Puppe, ein historisches schwarz-weiss Foto von einem Jungen, der aus dem Fenster schaut.

 


Wenig bekannt in der Öffentlichkeit

«Die Geschichte der Saisonnier-Kinder ist Teil meiner eigenen Geschichte», sagt der Historiker Luca Panarese (29), der die Ausstellung konzipiert und realisiert hat. Sein Grossvater lebte mit der Mutter und einer Tante in einem süditalienischen Dorf, während der Vater in der Schweiz arbeitete. «Mein Grossvater hat von den medizinischen Kontrollen in Brig erzählt, wenn sie nach dem Aufenthalt in Italien zur Arbeit in die Schweiz zurückkehrten. Für ihn war das erniedrigend.» 

Erst in den letzten zwanzig Jahren, so erfährt die Besucherin, kam dieses dunkle Kapitel Schweizer Geschichte allmählich ans Licht: Bücher und Filme geben den Betroffenen Stimme und Gesicht, politische Vorstösse verlangen nach Aufarbeitung, 2021 wird der Verein Tesoro gegründet, der sich für die Aufarbeitung dieses Leids einsetzt sowie eine Entschuldigung und eine Entschädigung für Betroffene verlangt. Geschehen ist dies bislang nicht. 

Angesichts des Leids, das die betroffenen Familien erfahren haben, fällt es schwer zu verstehen, weshalb das Thema nach wie vor wenig bekannt ist. «Die Kinder schämten sich, sie wollten ihre Vergangenheit vergessen», erklärt Luca Panarese das lange Schweigen der Betroffenen selbst. «Auch ihre Eltern fühlten sich schuldig, und die Kinder würden diese Schuld verstärken, wenn sie das Erlebte erzählten.»

 


Keine Nachweise bei der Missione

Inwieweit die Missione Cattolica Bern solchen Kindern und ihren Eltern geholfen hat, kann Panarese nicht mit Sicherheit sagen. Als Co-Autor eines Buches über Geschichte der Missione Cattolica di Berna (2023) und Redaktor ihres Magazins «Insieme» kennt er sich aus. In den Archiven, die ihm zugänglich waren, fand er keine Dokumente, die eine solche Unterstützung belegen würden. 

«Die Eltern konnten niemandem vertrauen, eine allfällige Unterstützung war auch für die Kirche illegal», erklärt Panarese das Fehlen von Nachweisen. Weil die Missione sich aber sehr für die Migrant:innen eingesetzt hat, hält er es für möglich, dass sie materielle Unterstützung leistete oder die Kinder zu Hause unterrichtete. Vielleicht seien auch betroffene Kinder in die von der Missione geführte Kita oder Schule gegangen, mutmasst Panarese. 

Sans Papiers, Asylsuchende, Status L

Die Ausstellung bleibt jedoch nicht bei den Kindern von damals stehen. «Wer lebt heute in einer ähnlichen Situation?», fragte sich Luca Panarese, der die Ausstellung ehrenamtlich auf die Beine gestellt hat. Er lässt darin Sans-Papiers, Asylsuchende und Migrant:innen mit Status L (Kurzaufenthaltsbewilligung) zu Wort kommen. Denn es geht ihm nicht nur um die Aufarbeitung der Geschichte. Er hofft auch, etwas für jene Menschen tun zu können, die heute in einer ähnlichen Situation leben wie viele Italiener:innen damals. 

 

Das Saisonnier-Statut galt von 1934 bis 2002. Man brauchte ausländische Arbeitskräfte für die Schweizer Wirtschaft, wollte jedoch nicht, dass diese sich in der Schweiz niederliessen. Ab 1964 durften die «Fremd- oder Gastarbeiter:innen» neun Monate in der Schweiz bleiben. Während dieser Zeit durften sie die Stelle nicht wechseln und ihren Wohnsitz nicht in einen anderen Kanton verlegen. Eine Kündigung hatte die Ausreise zur Folge. Eine Niederlassung konnten sie erst nach vier Saisons im gleichen Kanton beantragen. Während dieser Zeit war der Familiennachzug verboten. Einige Saisonniers liessen ihre Kinder in der Heimat zurück, andere brachten sie in Heimen nahe der Grenze unter, wieder andere nahmen ihre Kinder mit und versteckten diese in der Wohnung. 

1970 verlangte die Schwarzenbach-Initiative, den Anteil an Ausländer:innen in der Schweiz auf 10 Prozent zu beschränken. Mit 54 Prozent Nein-Stimmen wurde sie abgelehnt. Seit 2002 gilt zwischen der Schweiz und der EU der freie Personenverkehr.

 

Hinweise

Weil der Theatersaal der Missione Cattolica regelmässig benutzt wird, war die Ausstellung nur kurze Zeit (bis 5. Oktober) zu sehen. Für weitere Informationen zum Thema vermittelt die Redaktion auf Nachfrage den Kontakt zu Luca Panarese. 

Buchtipp: Pierdomenico Bortune, Cecilia Bozzoli; Celeste. Das versteckte Kind. Seismo-Verlag 2024