Vielleicht sollten sie sich dort hinten hinsetzen, überlegen zwei Frauen. «Es ist ganz gut, wenn man nachher aufstehen und mitschunkeln kann», sagt die eine zu ihrer Begleiterin. «Hat’s dich auch hierher verschlagen?», fragt eine andere Frau ihre Sitznachbarin. Die zeigt auf ihre zehn Jahre alte Tochter und antwortet: «Wir kommen immer hierher. Sie ist Fan.»
Die vordere Hälfte der Kirche Bern ist schon gut gefüllt: Etwa 90 Leute, die meisten Frauen jenseits der 50, sitzen verteilt in den Bänken. Gleich beginnt das offene Singen. Wobei die Menschen nicht nur zum Singen herkommen. Sie sind auch hier, um sich zu bewegen und zu tanzen. Oder wie Bene Maurer, Perkussionist und Mitorganisator des Abends, sagt: «Die Leute wollen eintauchen.»
Kurze Texte, eingängige Melodien
Deshalb haben alle Lieder, die in den nächsten 90 Minuten erklingen, nur eine Strophe, und die Melodien wiederholen sich oft. Viele Texte sind fremdsprachig, werden aber vorher übersetzt und während des Singens auf eine Leinwand projiziert. «Ich singe auch in einem Kirchenchor, aber hier ist es anders», sagt eine Teilnehmerin gegenüber dem «pfarrblatt». «Man muss nicht proben. Man kann singen, wie man will.»
Heute stehen Friedenslieder auf dem Programm. Neben Maurer gehören Evita Berger, Kiki Bienz, Heinz Gerster, Lydia Graf, Sandra Mäder und Christoph Schön zum Singvolk-Team. Als Berner Gruppe des Vereins «Stimmvolk Schweiz» organisieren sie das Singen in der Heiliggeistkirche seit 2012 in wechselnder Besetzung an jedem ersten Donnerstag des Monats. Mit der Ukulele, Gitarre und Guitalele, einer Mischform aus beidem, mit der Klarinette und mit Perkussion begleiten sie den Gesang.
Verbindende und gesundheitsfördernde Kraft
Der Verein «Stimmvolk» verfolgt schweizweit das Ziel, «die verbindende und gesundheitsfördernde Kraft des gemeinsamen Singens erlebbar zu machen». Es gehe darum, inneren Frieden zu finden und diesen «von Herz zu Herz» weiterzugeben, sagt Graf.
Ähnlich formuliert es die deutsche Autorin Katharina Hagena in ihrem Buch «Herzkraft», das letztes Jahr erschienen ist. Darin schreibt sie, Singen tröste und beruhige. Es gebe Mut und Zuversicht und stärke die sozialen Bindungen unter den Singenden. «Singen ist wie ein Elementenwechsel, als könnten wir singend die Schwerkraft überwinden, und doch sind wir dabei so geerdet wie selten», stellt Hagena ausserdem fest.
Lieder aus verschiedenen Kulturkreisen
Auch wenn das Stimmvolk kein christliches Projekt ist, passt es also gut in die Kirche. Die Lieder des Abends stammen aus verschiedenen Kulturkreisen, viele sind von indischen Mantras, heiligen Versen aus dem Sanskrit, inspiriert. Eine spirituelle Dimension haben sie alle.
Der Verein der Offenen Kirche Bern habe sie eingeladen, das Singen hier zu veranstalten, berichtet Graf. Durch die zum Teil auch christlichen Lieder habe er selbst wieder einen anderen Bezug zum Christentum bekommen, sagt Maurer. Einige Sänger:innen hätten früher Mühe gehabt, in eine Kirche zu gehen. «Sie sagen uns: Jetzt sind wir wieder versöhnt.» Offenbar taugt das Singen also auch hier zum Brückenbauen.