Lena Corbyn (Victoria Trauttmansdorff) lebt in einem Wohnwagen am Waldrand, umgeben vom Panorama der tiefverschneiten Bündner Alpen. In einen roten Mantel gehüllt, stapft sie durch die winterliche Landschaft. Die 59-Jährige stammt aus einer wohlhabenden Familie und ist unterwegs zur Villa ihres Vaters in St. Moritz. Dieser hat sich dazu entschlossen, mittels Sterbehilfe aus dem Leben zu scheiden. Doch vorher will der Patron seine Unternehmensnachfolge regeln. Lenas Nichte Sophie soll dieses im väterlichen Sinne weiterführen. Für seinen letzten Willen will sich der Patron die Unterstützung seiner Tochter Lena zusichern.
Doch diese hat andere Pläne. Nicht grundlos hat die Transkriptions-Spezialistin für mittelalterliche Schriften schon Jahre zuvor dem Profitdenken ihrer Familie den Rücken gekehrt und sich dem einfachen Leben verschrieben. Durch ihre Arbeit ist sie fasziniert von Frauen wie Hildegard von Bingen, die als kluge Gründerin und Leiterin eines Frauenklosters aufzeigte, wie eine Gemeinschaft ohne Gewinnmaximierung überleben kann. Als Lena nun ein Drittel der Firmenanteile erbt, nutzt sie dieses Wissen, um ein nachhaltiges, mitarbeitergeführtes Unternehmensmodell zu schaffen – sehr zum Entsetzen ihrer privilegierten Familie.
Überwiegend weibliches Team
Soweit Inhalt der rund halbstündigen Pilotfolge des schweizerischen Serienprojekts «$hare». Darin wird die Hauptfigur Lena Corbyn als Brückenbauerin zwischen mittelalterlicher Klosterkultur und zeitgenössischer Ökonomie zur unerwarteten Revolutionärin. Die Idee der finanziellen Unabhängigkeit zieht sich dabei bis in die Organisation der einheimischen Produktion. Die Macherinnen drehten auf eigene Faust die erste Folge im Engadin. Wenn mehr als 500'000 Menschen die kostenpflichtige Episode für ungefähr 8 Franken pro Sichtung schauen, werden sie eine ganze Staffel produzieren.
Eine der kreativen Köpfe hinter dem Projekt ist die Autorin Katja Meier, Gründerin der Zürcher Produktionsfirma Zenka Films. «$hare» ist ihr Herzensprojekt, sie schrieb das Drehbuch und fungiert auch als Produzentin. Zusammen mit der Schauspielerin Delia Mayer (aus der Netflix-Serie «Unorthodox»), die hier co-produziert und das erste Mal als Regisseurin arbeitet, wollte sie «$hare» von Anfang an autonom realisieren. «Die Geschichte macht nur Sinn, wenn wir diese Werte auch hinter der Kamera leben und uns fragen, wie wir in der Filmbranche mit Macht und Hierarchien umgehen», erzählt Katja Meier.
Deshalb sei ihre Vision von Anfang an klar gewesen: mit transparenten Gehältern, einem nachhaltigen Produktionsansatz und einem überwiegend weiblichen Team eine eigenständige Serie zu schaffen. Diese soll Frauen über 50 als vielschichtige Protagonistinnen zeigen, die ebenfalls unabhängig sind, ihr Leben selbst bestimmen können und für einmal nicht auf das Thema Mutterschaft reduziert werden. «Wir haben das ganz bewusst aussen vor gelassen, um den Blick auf eine Protagonistin zu schärfen, die von all diesen Stereotypen und Erwartungen losgelöst ist, die man an eine Frau in der Gesellschaft hat», sagt Delia Mayer dazu.
Utopie oder Realität?
Auf ihre ungewöhnliche Heldin sei sie während einer Recherche in der Zentralbibliothek Zürich gekommen, erklärt Katja Meier. «Ich bin dort auf einige der ältesten handschriftlichen Texte der Manuskripte-Abteilung gestossen – diejenigen der Mystikerin Elsbeth von Oye. Sie lebte im späten 13. Jahrhundert im Dominikanerinnen-Kloster Oetenbach in Zürich und praktizierte dort mehrere Jahre lang Selbstgeisselung», so die Drehbuchautorin. Sie fügt hinzu: «Ich fand von Oye als historische Figur spannend, auch unter einem feministischen Aspekt. Denn ihre Schriften gehören zu den raren Selbstzeugnissen von Frauen jener Zeit. Dass sie aus der Schweiz stammte, fand ich interessant und so hat sich die Idee dann weiterentwickelt».
Nonnen aus dem Mittelalter wie Elsbeth von Oye oder Hildegard von Bingen sind auch deshalb relevant für die Geschichte, weil sich Firmen wie Purpose Schweiz mit dem Modell Steward-Ownership (Verantwortungseigentum) an der gemeinschaftlichen Idee von Klöstern orientieren würden, weiss Katja Meier. Steward-Ownership bedeutet, dass die Gewinne im Unternehmen verbleiben und für dessen Zwecke verwendet werden, anstatt den Eigentümer:innen zur persönlichen Bereicherung zu dienen. Eine zukunftsweisende Unternehmenskultur im Sinne der Nachhaltigkeit.
«Die Kultur der Steward-Ownership-Bewegung ist extrem langlebig, weil die Aufgaben im Sinne der Fähigkeiten verteilt sind und die geschaffene Wertschöpfung reinvestiert wird. Das ist das verbindende Element zu Klosterstrukturen, die sich über Jahrhunderte bewährt haben», sagt Katja Meier. $hare»-Kamerafrau Isabelle Simmen findet, dass das Projekt die Möglichkeit biete, die von vielen als Utopie verschrieene antikapitalistische Idee einfach einmal auszuleben. «Wir probieren das in einem kleinen Setting und schauen, ob diese Utopie nicht Realität werden kann. Im besten Fall inspirieren wir damit andere».
Hoffnung liegt auf dem Graswurzelprinzip
Dass sich die Geschehnisse vor und hinter der Kamera miteinander verweben, sieht auch Creative Producer und Darstellerin Alejandra Jenni so. Sie spielt in der Pilotfolge Julia Sanchez, die jüngere Mitstreiterin von Lena Corbyn. «Zwischen den beiden Figuren entsteht ein generationsübergreifender Austausch, der spannenderweise auch hier im Team stattfand und immer noch stattfindet, weil wir weiterhin miteinander in Kontakt stehen, um das Projekt voranzubringen», sagt sie. Delia Mayer pflichtet ihr bei und berichtet, dass sie diese Arbeit sehr organisch erlebe. «Die ganze Kommunikation und das Verständnis füreinander ist sehr schön».
International hat «$hare» bereits für Aufsehen gesorgt. Sowohl im britischen «Guardian» wie auch im internationalen Wirtschaftsmagazin «Forbes» wurde über das Projekt der Schweizer Filmemacherinnen geschrieben. 2023 hat Katja Meier mit ihrem Drehbuch den Preis des Writers Lab UK & Europe gewonnen. Das Programm für Drehbuchentwicklung richtet sich an Frauen und nonbinäre Personen über 40 und wird unter anderem von Meryl Streep und Oprah Winfrey unterstützt. Im April dieses Jahres haben Katja Meier und ihr Team für das Projekt auf dem SeriesFest in Denver einen Award und eine Special Mention erhalten. Im Juni war «$hare» als «Winning Pilot» am North Fork Festival in New York vertreten.
Und wie ist es um das Interesse in der Schweiz bestellt? «Wenn im Ausland über uns gesprochen wird, kommt auch hier mehr Interesse auf, das hilft. Ich hoffe, dass wir nächstes Jahr filmen können und schaue mir gerade geeignete Drehorte an. Aber es ist ein hartes Business und wir machen es uns nicht unbedingt leichter mit unseren unkonventionellen Produktionsansätzen», so Katja Meier. Neben der Suche nach Fördermitteln hofft das Frauenteam deshalb vor allem darauf, dass das Graswurzelprinzip greift und der Traum von der Serie umsetzbar ist.
Die Pilotfolge von «$hare» kann auf der Streamingplattform Olyn auf Englisch mit deutschen Untertiteln gesehen werden. Der Trailer ist auf der Website share-tvseries.com zu finden.