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Die Gastarbeiter verabschieden sich von ihren Familien. Foto: Keystone / Joe Widmer

«Ich durfte nicht mit den Kindern draussen spielen»

Biagio Marcone war Kind italienischer Saisonniers. Während rund zwei Jahren war er illegal in der Schweiz und wurde darum versteckt.

«Meine Eltern arbeiteten in den Sechziger Jahren als Saisonniers in Bern. Für meine Geburt im Jahr 1961 ging meine Mutter nach Italien. Die ersten Jahre wuchs ich bei meinen Grosseltern auf. 

Mit vier Jahren holten meine Eltern mich illegal in die Schweiz. Hier musste ich im Versteck leben. Um keine Aufmerksamkeit der Behörden auf mich zu lenken, wurde ich oft bei Verwandten untergebracht, die über das ganze Land verstreut waren. Mein Vater arbeitete im Schichtbetrieb in einer Metzgerei, meine Mutter als Putzfrau und abends auf einer Post. Es gab Situationen, in denen ich für kurze Zeit alleine war.

Ich durfte keine Kontakte zu anderen Kindern knüpfen und nicht draussen mit ihnen spielen. Es war mir damals nicht bewusst, dass ich versteckt wurde. Ich erinnere mich eher daran, dass ich bei einem meiner Verwandten nicht besonders gerne war. 

Kurz bevor ich in den Kindergarten kam, erhielten meine Eltern die Aufenthaltsbewilligung. Dadurch war ich nicht länger illegal hier. Doch im Kindergarten war es nicht leicht für mich. Zuhause und bei den Verwandten hatte ich nur Italienisch gesprochen. Ich verstand nicht, was die Lehrerin wollte und ich war auch den Umgang mit anderen Kindern nicht gewohnt. Entsprechend eckte ich an und wurde gemobbt. 

Wir wohnten im Waldegg-Quartier in Ostermundigen an der Grenze zu Bern. Es kam vor, dass grössere Schweizer Jungen aus der Nachbarschaft uns Italienerkinder verprügelten. Einmal fuhr meine Mutter dazwischen und gab mir und einem Schweizer Jungen eine Ohrfeige, um uns zu stoppen. Der Vater des Jungen belehrte sie, indem er sagte: «In der Schweiz schlägt man Kinder nicht!». Er erstattete Anzeige. Dahinter steckte die Haltung, uns Ausländer:innen erziehen zu müssen.


Als Jugendlicher entwickelte ich eine Aversion gegen Schweizer:innen. Ich hielt sie alle für Rassist:innen. Ich habe erst viel später gemerkt, dass das nicht stimmt. Es gibt Menschen, die Rassist:innen sind, unabhängig von ihrer Nationalität. Ich verband mich damals vor allem mit meinen Landleuten. Mit 18 Jahren wollte ich mich zum italienischen Militärdienst melden, um danach nicht in die Schweiz zurückzukehren. 

Doch dann lernte ich ein Mädchen kennen, auch eine Italienerin. Ihre Eltern hatten mehr Verständnis für die Haltung der Schweizer:innen als ich. Erst dadurch hat auch bei mir die Integration in die Schweizer Gesellschaft stattgefunden. 

Meine Frau hat meine Mutter einmal darauf angesprochen, wie es für sie war, das eigene Kind verstecken zu müssen. Sie sagte, es sei nicht so schlimm gewesen. Ich hatte den Eindruck, sie spiele das herunter, um sich nicht schämen zu müssen. Aber was für eine Wahl hatten sie denn? Die Alternative wäre gewesen, in Italien ein wirtschaftlich schlechtes Leben zu führen. 

Ich bin froh, dass man heute mehr über die versteckten Kinder erfährt. Selbst vielen Italiener:innen, die hier leben, ist das Thema nicht bekannt, wenn sie nicht selbst betroffen waren. 

Heute lebe ich zufrieden dank der gesellschaftlichen Veränderungen, die dazu geführt haben, dass Italiener:innen besser akzeptiert werden. Ich engagiere mich in der Missione Cattolica di Lingua Italiana di Berna in einer Gruppe, die sich für Flüchtlinge einsetzt. Denn es gibt auch heute Menschen, die Ähnliches erleben, wie wir damals.»

Aufgezeichnet von Sylvia Stam