Die Schweiz spielt im Vatikan eine bedeutende Rolle. Warum? Vor allem durch die Schweizergardisten. Seit 1506 schützen sie die Päpste und prägen mit den Werten, für die sie stehen, ein besonderes Bild: Zuverlässigkeit, Treue und Standhaftigkeit werden durch sie mit der Schweiz verbunden. Die Präsenz von Schweizer:innen im Vatikan und in Rom beschränkt sich aber nicht auf sie. Veronika Jehle, Redaktorin beim Forum-Magazin der katholischen Kirche Zürich, hat zusammen mit Fotograf Christoph Wider einige von ihnen in der ewigen Stadt besucht.
Der Journalist
Wir laufen über den Petersplatz, wo sich unzählige Menschen tummeln. Pilgergruppen kommen uns entgegen, als wir in die Via della Conciliazione einbiegen. Sie tragen das Pilgerkreuz des Heiligen Jahres 2025, singen Lieder und beten den Rosenkranz in ihrer jeweiligen Muttersprache. Bald sind wir an der Piazza Pia angekommen: beim Dikasterium, also einem vatikanischen Ministerium, für Kommunikation.
Mario Galgano kommt an den Empfang geeilt. Schon hier am Eingang merkt man deutlich, wie viel gerade zu tun ist in dieser Woche des Konklaves. Positiver Stress liegt in der Luft. Die Papstwahl ist für alle ein zusätzliches Ereignis, das niemand längerfristig einplanen konnte. Mario Galgano beginnt geradewegs zu erzählen: Sein Arbeitsort hier sei «wie eine Mini-UNO in Rom». Aus rund 60 Nationen kommen die 600 Angestellten zusammen. Sie alle übersetzen, schreiben, kommentieren, tragen in unzähligen Sprachen die Worte des Papstes um die Welt – «vereinte Nationen» der päpstlichen Medienarbeit.
Mario Galgano ist die eine Schweizer Stimme. Wer auf Vatican News deutschsprachige Nachrichten liest und hört, kommt an ihm nicht vorbei, ebenso, wer dem Papst auf Deutsch auf Facebook, Instagram oder X folgt. Der geborene Schwyzer erreicht ein Millionenpublikum, immer mit den Worten des Mannes in der weissen Soutane. Wer der Papst für ihn sei? «Mein Chef, mein Verleger», antwortet er spitzbübisch, aber nicht minder respektvoll.
Offenheit für andere Kulturen
Sämtliche Kirchenoberhäupter seit Papst Pius XI. in den 1920er Jahren hätten den Anspruch gehabt, alle Menschen dieser Welt mit ihrer Botschaft zu erreichen, erklärt der Historiker Galgano. Klar, dass es dafür die je aktuellen Kommunikationsmittel – und Menschen aller Länder braucht. Ebenso, dass ihr Zusammenarbeiten eine grosse kulturelle und sprachliche Vielfalt unter einem Dach ergibt. Galgano macht genau das Spass. Zählt er nach, kommt er auf sechs verschiedene Sprachen, die er spricht und versteht, dazu kommt Latein als Amtssprache des Vatikans, das er, wie er zugibt, allerdings nicht fliessend sprechen kann. Fliessend wechselt er hingegen zwischen seinen anderen Sprachen; Gelegenheiten genug bieten ihm die langen Gänge des mehrstöckigen Dikasteriums – wie ein internationales Bienenhaus. Dass er sich darin wohlfühlt, führt er auf seine Prägung zurück: «Wir Schweizerinnen und Schweizer sind uns bewusst, dass unser Land nicht nur aus einer Sprachregion besteht. Bei aller Ausländerfeindlichkeit gibt es eine natürliche Offenheit für andere Kulturen.» Vorbildlich ist für ihn die Idee der Willensnation, die er sich als Ideal auch für die Weltkirche vorstellt: «der Wille, zusammen sein zu wollen, zueinander zu gehören, selbst wenn wir unterschiedlich sind.»
Der Schulabwart
Bald hat uns die Grossstadt wieder. Der Bus ruckelt uns durch die Stadt, hinaus bis Nomentana. Wir sind bei einer Schweizer Institution angekommen. Pino Coco steht am Tor der Schweizer Schule in Rom und verabschiedet Kinder und ihre Eltern in den späten Nachmittag. Der Luzerner ist «Custode», der Hauswart hier. Einst besuchten seine eigenen Kinder diese Schule. Er selbst hatte es bei der Schweizergarde bis zum Hauptmann gebracht, nach maximal 25 Dienstjahren ist aber für jeden Gardisten Schluss.
Foto: Christoph Wider
Dafür nimmt er jetzt allmorgendlich die rund 30 Kinder in Empfang, deren Väter aktuell Schweizergardisten sind und die mit zwei Bussen aus dem Vatikan zur Schule gebracht werden. Kinder mit einem Schweizerpass wie sie machen insgesamt 20 Prozent der Schülerschaft aus. An der Schweizer Schule in Rom rühmt man sich von daher der Internationalität und nennt sich stolz «Begegnungsschule».
Pino Coco räumt kurzzeitig seinen Posten am Tor und begleitet uns in den Garten. Neben viel Grün und Spielplätzen stehen hier ein Kindergarten-Gebäude und eine schmucke Villa, das Stammhaus der Schule. Kinder tollen umher, winken ihrem «Custode» und grüssen uns im Vorbeilaufen. «Der Garten ist ein Paradies für die Kleinen. Sie sind hier freier als an italienischen Schulen», kommentiert Coco.
Schweizer Werte vermitteln
Die Schweizer Schule in Rom folgt einer eigenen «Swissness-Charta»: Werte wie Toleranz, Respekt und Offenheit sollen an die jungen Menschen weitergegeben werden, eine «gesunde Leistungsorientierung» und breite Allgemeinbildung, nachhaltiges Handeln, aber auch der Bezug zur Schweiz, «gestärkt durch lebendiges Brauchtum» und die «lebenslange Verbundenheit» untereinander. Alle 17 Schweizer Schulen im Ausland, die vom Bund anerkannt sind – vier davon sind in Italien –, folgen dieser Richtlinie der Dachorganisation «educationsuisse»: ein bisschen Schweiz, verstreut über die ganze Welt.
Was aber macht diese Schweizer «Begegnungsschule» mitten in Rom attraktiv? Arabella Bertelli De Angelis ist Restauratorin in den Vatikanischen Museen. Geboren ist sie in Zürich, aufgewachsen in Rom. Als ehemalige Schülerin gibt sie zunächst eine emotionale Antwort: «Diese Schule ist wie eine Familie.»
Zwischen 1978 und 1993 war sie selbst Teil dieser Familie, hat ihre gesamte Schullaufbahn hier absolviert. Jetzt ist ihre Tochter Sekundarschülerin und sie die Vizepräsidentin des Verwaltungsrats. Darüber hinaus hat sie das Alumni-Netzwerk gegründet, damit ehemalige «Familienmitglieder» den Kontakt zueinander pflegen können. «Schwer zu sagen», überlegt sie, was genau die familiäre Qualität an diesem Ort ausmache. «Ein Gefühl vielleicht? Eine intensive Vernetzung, die selbst Nicht-Schweizer mit der Schweiz verbindet?» Verbindend sei aber jedenfalls das pädagogische Konzept, ist Bertelli De Angelis überzeugt, alleine schon, weil schweizerische und italienische Kultur gleichberechtigt gepflegt werden.
Die Restauratorin und der Direktor
Das unterstreicht auch Direktor Jonathan Rosa, aufgewachsen in der Bündner Gemeinde Mesocco, auf Deutsch Misox. «Ich bin Schweizer italienischer Sprache, der nun eine Institution leitet, in der die erste Sprache Deutsch ist.» Er versuche, beide Kulturen zusammenzubringen, persönlich und an der Schule: «Damit wird unser Schweizer Modell kosmopolitischer und weltoffener.» Im Unterschied zur Deutschen Schule oder zur Französischen Schule nämlich, an denen die je eigene Sprache und Kultur im ausländischen Umfeld im Mittelpunkt stehen, würden an der Schweizer Schule eben beide Identitäten gefördert und gebildet. Lehrplan und Lehrmittel dafür stammen aus St. Gallen, dem Patronatskanton der Schweizer Schule in Rom, anerkannt sind die Abschlüsse in beiden Ländern. Jonathan Rosa schaut uns bedeutungsvoll an. Noch etwas Wichtiges werde aus dem Patronatskanton importiert: «Die St. Galler Bratwürste, die sind hochbeliebt – mehr als 1000 Würste verkaufen wir jedes Mal an unserem Sommerfest!», grinst er.
Foto: Christoph Wider
Der Ex-Gardist
Am nächsten Tag besuchen wir das Grab von Papst Franziskus, ehe wir mit dem Bus in die Nähe des Botanischen Gartens der Villa Borghese fahren. Die Pinien verströmen in der warmen Nachmittagssonne ihren typischen Geruch. Wir finden das Strässchen, an dessen Eingang drei Sonnenuhren prangen: die Via dei tre Orologi. Andreas Walpen wird uns später sagen, das Strässchen gelte als eines der schönsten in Rom. An dessen Ende ein kurzer Sicherheitscheck beim Eingang zur Botschaft, ein verschachteltes Haus aus Backstein, auch hier Erinnerungen an eine Burg. Walpen begrüsst uns in ruhiger Manier mit starkem Händedruck und führt uns unmittelbar in seine Stube, wo uns auch seine Frau zur Begrüssung erwartet. Die beiden leben hier in der deutschen Botschaft am Heiligen Stuhl, sie teilen sich die Aufgabe des «Major Domus», sind also verantwortlich für den Betrieb im Botschaftsgebäude. Kuchen steht bereit auf weissem Tischtuch, bald blubbert Caffè in der Bialetti, wir trinken ihn aus Espresso-Tässchen in Vatikan-Farben mit Vatikan-Flaggen darauf.
Andreas Walpen gehört, wie auch Pino Coco, zu der kleinen Gruppe ehemaliger Schweizergardisten, die länger als zwei Dienstjahre in Rom geblieben sind. Walpen ist in den maximal möglichen 25 Jahren bei der Garde bis zum Wachtmeister aufgestiegen, danach bot sich die Stelle in der deutschen Botschaft am Heiligen Stuhl an. Was er in seiner Zeit als Gardist erlebt hat, lässt sich anhand der Fotografien an der Wand seiner Stube erahnen: Da sieht man ihn, wie er in Uniform Papst Johannes Paul II. seine neugeborene Tochter zeigt, dort ist er mit Papst Benedikt XVI. im Flugzeug unterwegs, ein anderes Bild zeigt ihn und seine Gattin zum Abschied bei Papst Benedikt; überhaupt sind es viele Fotos mit Papst Benedikt, auch eines mit Franziskus ist dabei, aber da war der Ex-Gardist schon nicht mehr im Dienst. Andreas Walpen war päpstlicher Personenschützer und kam als solcher den Päpsten nahe wie vielleicht kaum jemand sonst.
Foto: Christoph Wider
Glaube und lebenslange Zugehörigkeit
Während er so erzählt, macht er eine bedeutsame Pause. Es sei diese Nähe, die ihm heute fehle: «Als Gardist war es meine Aufgabe, für den Papst einzustehen, mein Leben zu opfern, wenn es die Situation erfordert. Das hat eine enge Beziehung auf geistiger Ebene bewirkt», sagt er fest. Wer hinschaut, sieht die Rührung in seinen Augen glitzern. Einmal habe er Papst Benedikt auf einer Reise nach Deutschland begleitet. Im Schloss Bellevue in Bonn seien sie dem damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler vorgestellt worden. «Uh, der greift aber kräftig zu», habe Köhler zu Benedikt gesagt, als Walpen ihm die Hand gab, und Benedikt dazu: «Ja, das muss er, er ist für meine Sicherheit da!» Für Walpen zeigt diese Szene «die Wertschätzung, die man als kleiner Mann von Papst Benedikt erfahren hat».
Was hat ihn für einen derart intensiven Dienst motiviert? Der Oberwalliser muss keine Sekunde überlegen: «Der Glaube hat mich angetrieben, und die Aussicht auf lebenslange Zugehörigkeit.» Schnell ist er in der Erinnerung zurück in jener Zeit, als er als junger Vermessungszeichner aufbrach, aus dem damaligen 700-Seelen-Dorf Fiesch nach Rom, in die Millionenstadt: «Tschüss, wir sehen uns in zehn Jahren wieder», habe er seinem Vater zum Abschied gesagt – «Das war meine Überzeugung». Jetzt ist er seit 43 Jahren weg. Gefragt nach dem, was bleibt von der Verbindung zum Ursprung, muss er hingegen nachdenken: «Es gibt das schon, dass man stolz ist, die Schweiz vertreten zu dürfen. Dort sind die Wurzeln, die eigene Familiengeschichte. Jeder Berg, jeder Hügel, die Linde auf dem Dorfplatz rufen ein Heimatgefühl hervor. Für mich geht Schweizersein auch Hand in Hand mit Katholischsein.» Ob er jemals wieder in die Heimat zurückkehren würde? Ganz ausgeschlossen scheint es nicht zu sein.
Die Frage nach der «Swissness»
Während Andreas Walpen uns am Tor der Botschaft nachwinkt und wir die Via dei tre Orologi hinunterlaufen, begleitet uns die Frage nach der Swissness noch bis zurück zum Petersplatz. Es gibt sie ja doch: Qualitäten, die untrennbar mit der Schweiz verbunden werden, die zur Identität, durchaus aber auch zum Gefühl ihrer Bürger:innen zählen. Was gehört dazu? Das, wofür die Schweizergarde exemplarisch steht? Noch mehr, noch anderes? Die Begegnungen haben uns bei aller Ähnlichkeit auch unterschiedliche Facetten gezeigt.
Am Petersplatz haben sich bereits tausende versammelt, der erste Rauch aus der Sixtinischen Kapelle wird erwartet. Zwei Stunden später als angekündigt zeigt er sich, immerhin wie erwartet: schwarz. Am nächsten Tag, als wir bereits wieder zurück in der Schweiz sind, erreicht uns die Nachricht von der Wahl Papst Leos XIV.: «Die Welt wird den Papst bekommen, den sie braucht», hatte Andreas Walpen in vollem Vertrauen gesagt.
Dieser Beitrag erschien zuerst im Forum-Magazin der katholischen Kirche im Kanton Zürich.