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Ein immer selteneres Bild: Ein kleiner Junge wird bei seiner Taufe mit Chrisam gesalbt. Foto: KNA

Die Nachwuchskirche ist am Ende

2024 traten weniger Menschen aus der Kirche aus als im Rekordjahr 2023. Aber inzwischen sterben mehr Kirchenmitglieder, als es Taufen gibt.

Dominik Thali und Sylvia Stam*

Arnd Bünker spricht von einem «Epochenwandel», das Ende der Nachwuchskirche sei erreicht. Damit meint der Leiter des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts (SPI), das die Kirchenstatistik für die katholische und reformierte Kirche Schweiz führt, das frühere Erneuerungsmodell der Kirche, bei dem sterbende Mitgliedergenerationen durch Taufzahlen ausgeglichen und die Kinder und Jugendlichen durch religiöse Erziehung begleitet wurden: «Bis zur Ehe. Damit war die nächste Generation quasi gesichert.» 

Vergangene Zeiten. «Unsere Basis schrumpft kontinuierlich», stellt Bünkers reformierter Kollege Stephan Jütte an der Medienpräsentation der Kirchen vom 26. September fest. In Zahlen: In der katholischen Kirche Schweiz wurden 2024 13548 Menschen getauft, 10 Prozent weniger als im Vorjahr, 35 Prozent weniger als vor zehn Jahren. In der reformierten Kirche ist der Rückgang noch grösser. Die 7111 Taufen im Jahr 2024 entsprechen einem Minus von 13 Prozent gegenüber dem Vorjahr und von 46 Prozent gegenüber dem Wert von 2014. 

Negativer Generationensaldo 

Der «klar negative Generationensaldo», den Jütte ausmacht, lässt sich zusätzlich an einem Vergleich festmachen: In der Schweiz gab es im vergangenen Jahr 78 256 Geburten. Die Taufquote betrug nur 26,4 Prozent, obwohl der Anteil der Kirchenmitglieder an der Gesamtbevölkerung – katholisch und reformiert – gemeinsam bei etwa 50 Prozent lag. «Darin zeigt sich der starke Abbruch der familiären Weitergabe von Glauben und Kirchenbindung», sagt Bünker.

Arnd Bünker geht davon aus, «dass die Sockelerosion langsam, aber stetig steigen wird». Das Tempo des Mitgliederschwunds werde wegen der fehlenden Taufen zunehmen. Der Theologe, der das SPI seit 2009 leitet, hält es zudem für «nicht realistisch, die grossen Trends der Entkirchlichung, der Säkularisierung und Individualisierung in Religion und Spiritualität zu stoppen». Die Geschichte bleibe aber offen, «auch für Überraschungen». 

Sterbephasen für die Landeskirchen

Dass dieser Trend unumkehrbar ist, sagte auch Urs Brosi, Generalsekretär der Römisch-katholischen Zentralkonferenz, zwei Tage vor der Medienpräsentation an einem Referat an der Uni Luzern. Dieses stand unter der Frage: Landeskirchen – sozial und theologisch auf dem Abstellgleis? Brosi weist darauf hin, dass auch das seelsorgerliche Personal weniger wird, weil viele Seelsorger:innen der geburtenstarken Boomergeneration demnächst in Pension gehen. «In wenigen Jahren werden wir noch halb so viele Seelsorger:innen wie heute haben. Ausserdem fehlen zunehmend Katechen:innen und Jugendarbeiter:innen». Die Landeskirchen müssen sich auf ihr Kleinerwerden einstellen. 

Wie aber geht das? Brosi teilt die Reaktionen, die er innerhalb der Kirchen wahrnimmt, in fünf Phasen auf, in Anlehnung an die Sterbephasen nach Elisabeth Kübler-Ross. 

Als erste Reaktion wollten viele in der Kirche dieses Sterben nicht wahrhaben. Stattdessen verdränge man das Problem oder bezweifle den Wahrheitsgehalt von Studien, die das Schrumpfen belegen. Als zweite Reaktion stellt er «Gegenmassnahmen» fest: «Man erarbeitet pastorale Entwicklungspläne, fördert Synodalität und stärkt Kommunikation und Jugendarbeit». Dieses «Aufbegehren» münde nicht selten in einen Aktivismus. 

Eine dritte Reaktion bezeichnet Brosi als «Frustration». Diese äussere sich etwa in Sätzen kirchlicher Mitarbeiter:innen, die sagten: «Bis zu meiner Pensionierung wird es wohl noch reichen.»

Akzeptieren, aushalten, trauern

Die vierte und fünfte Phase macht Brosi aktuell erst bei den Ordensgemeinschaften aus: «Schritte in die Zukunft tun, indem Strukturen verschlankt und Infrastruktur reduziert werden.» Und schliesslich die Akzeptanz und die Konzentration darauf, eine spirituelle Grundhaltung zu schaffen, in der Menschen im Glauben gestärkt werden, ohne sich abzusondern. «Wir sind Teil dieser Gesellschaft, aber wir können nicht mehr dasselbe leisten wie früher», fasst Brosi diese Haltung zusammen. Diese beiden letzten Phasen nimmt er bei den Landeskirchen noch nicht wahr.

Eine Antwort, weshalb Gott das Sterben der Landeskirchen zulasse, gebe es nicht. «Wir können das nur aushalten, beklagen und darüber trauern.» Als gläubiger Mensch dürfe man aber hoffen, «dass Gott auch im vermeintlichen Scheitern anwesend ist.»

Gelebte Neuinterpretationen der Botschaft Jesu

Auch an der Medienpräsentation des SPI ging es um die Frage, wie mit dieser Prognose umzugehen ist. Der St. Galler Bischof Beat Grögli stellte klar, es wäre «naiv, auf bessere Zeiten zu hoffen». Er räumte ein, eine flächendeckende Pastoral könne künftig nicht mehr gewährleistet werden. Es müsse darum gehen, «die Beteiligung der Gläubigen zu stärken, Vielfalt zu ermöglichen und damit auch Kontrolle und Einheitlichkeit aufzugeben». Bünker drückte dies so aus: Man werde sich in Zukunft vielleicht weniger auf die Grösse und mehr «auf die überraschende Lebendigkeit der gelebten Neuinterpretationen der Botschaft Jesu» ausrichten.


*Dieser Beitrag erschien zuerst im Kantonalen Pfarreiblatt Luzern.

 

2024 weniger Austritte 

Im vergangenen Jahr traten gesamtschweizerisch 36782 Personen aus der katholischen Kirche aus, 46 Prozent weniger als 2023. Bei der reformierten waren es 32561 Austritte (–18 Prozent). Der Rückgang erklärt sich mit der grossen Austrittswelle 2023, die auf die Publikation der Pilotstudie zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche Schweiz zurückzuführen war. In beiden Kirchen liegen die Austrittszahlen 2024 gleichwohl über jenen von 2022. Der Rückgang hält also an. Da wie dort zeigt sich zudem, dass sich der höhere Anteil von Sterbefällen gegenüber Taufen stark auswirkt.