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«Sorge und Macht gehen Hand in Hand», sagt Elis Eichener, hier im Gespräch an der Paulus-Akademie. Foto: stuckikommunikation.ch

«Die Metapher vom Hirten enthält auch Abgründe»

Seelsorge bewege sich zwischen Begleitung und spirituellem Übergriff. Deshalb sei es wichtig, sich mit der eigenen Macht zu befassen, sagt Elis Eichener.

Interview: Sylvia Stam

«pfarrblatt»: Birgt Seelsorge grundsätzlich die Gefahr, übergriffig zu werden?

 Elis Eichener*: Die meisten Menschen erleben Seelsorge als etwas Positives: als einen Ort, wo sie ihre Sorgen besprechen können und vielleicht Unterstützung erhalten. Es gibt aber auch Fälle, in denen Menschen Einschränkung erfahren. Etwa wenn ihnen Ideen nahegelegt werden, die sie gar nicht haben wollen. Oder wenn sie gezwungen werden, Dinge zu erzählen, die sie eigentlich nicht preisgeben wollen. In diesem Moment wird Seelsorge zum Übergriff. Sie ist also ihrem Wesen nach ambivalent.

 Sie erklären diese Ambivalenz anhand der biblischen Metapher des guten Hirten. Wie ist das gemeint? 

Eichener: Das Hirtenbild ist urbiblisch, denken wir etwa an das Gleichnis vom verlorenen Schaf. Darin lässt der Hirte die Herde zurück, um das eine Schaf zu suchen. In  der Tradition wird dieses Bild vom Hirten und der Herde auf die Kirchenleitung und die Gemeinde übertragen. Angesichts dieser konstruktiven Idee, Menschen ganz eng zu begleiten, vergisst man, dass dieses Bild auch Abgründe enthält. 

Inwiefern? 

Eichener: Der französische Philosoph Michel Foucault hat das ausgeführt: Menschen werden als Schafe gesehen, die von einem Hirten oder einer Hirtin angeführt werden. Er oder sie leitet sie über schwierige Stellen und hat immer ein Auge auf sie, und zwar nicht nur auf die Herde als Ganzes, sondern auch auf die einzelnen Schafe, die Gefahr laufen, sich zu verirren. Das kann durchaus als ein fürsorgliches Sich-Kümmern ausgelegt werden. Es kann aber auch unglaublich übergriffig sein, wenn der Hirte, die Hirtin im wahrsten Sinne des Wortes dem Schaf nachsteigt, sozusagen zum/zur Stalker:in der Herde wird. 

Was bedeutet dieses toxische Hirtenbild im Kontext von seelsorgerlichen Gesprächen? 

Eichener: Wenn man queeren Menschen zuhört, wird dieses Hirtenbild im seelsorglichen Kontext ganz konkret. Das gilt auch in der evangelischen Kirche, die sich selbst als die liberalere versteht. Wie oft wurde und wird versucht, Schwule und Lesben, trans oder non-binäre Menschen dazu zu bringen, sich zu outen. Sehr genau Aufschluss zu geben über das, was sie bewegt, dem nachzuspüren, was sie selbst im Intimsten treiben, es zu kontrollieren und dann in eine vermeintlich bessere, heteronormative Form zu überführen. 

Und das geschieht aus der Motivation der Fürsorge heraus? 

Eichener: Letztlich ja. Sorge und Macht widersprechen sich nicht, sondern sie gehen Hand in Hand. Christliche Machtausübung ist oft ganz ernsthaft besorgt um die Menschen. Es geht vielen Seelsorgenden wirklich darum, dem Gegenüber zu einem besseren Leben zu verhelfen. Doch kann Fürsorge in eine Art Regulierung münden, die Menschen in ihrer Freiheit einschränkt, statt ihnen zu helfen. Dies passiert sogar dann, wenn der oder die Seelsorger:in das gar nicht will. Es kann unabsichtlich geschehen. Darum ist das Thema so delikat. 

Wie können Seelsorgende verhindern, dass sie unabsichtlich übergriffig werden? 

Eichener: Das Wichtigste ist, dass sie ein Bewusstsein für die eigene Macht entwickeln. Seelsorger:innen schrecken oft davor zurück, ihr eigenes Handeln als machtvoll zu betrachten, weil sie das eigentlich nicht wollen. Sie verstehen sich selbst als unterstützende, liebevolle und absichtslose Begleitung. Aber um Machtmissbrauch zu verhindern, muss man sich der eigenen Macht bewusst sein.

Was heisst das konkret für Seelsorgende? 

Eichener: Seelsorgende sollten sich immer wieder die Frage stellen: «Respektiere ich die Grenzen des Gegenübers?» Das kann bedeuten, dass sie Begleitgespräche zeitlich begrenzen. Dadurch bleibt die  Möglichkeit auszusteigen gewahrt. Selbst dann, wenn die Seelsorge suchende Person dies gar nicht möchte, kann es notwendig sein, ein Gespräch zu beenden, um diese Person zu schützen. 

Gibt es weitere solcher Faktoren, die Seelsorgende beachten sollten? 

Eichener: Eine wichtige Grenze ist die Frage nach der Nähe. Natürlich muss man sich in einem seelsorglichen Gespräch auf eine gewisse Nähe einlassen, weil sehr persönliche Angelegenheiten besprochen werden. Aber Seelsorgende sollten thematisch bei dem konkreten Anliegen bleiben und bisweilen die eigene Neugierde zügeln. Es wäre verletzend, zu tief in das Innerste eines anderen Menschen einzudringen. Da braucht es seitens der Seelsorgenden viel Zurückhaltung und Feingefühl. 

Nähe und Distanz sind relative Begriffe. Gibt es Massstäbe, wie viel Nähe möglich und wie viel Distanz nötig ist? 

Eichener: In der Seelsorge hat man es immer wieder mit neuen, einzigartigen Situationen zu tun. Darum muss man in jeder Situation neu entscheiden, was Nähe und Distanz heisst und welche zeitliche Begrenzung angebracht ist. Das setzt eine hohe Kompetenz und damit eine profunde Ausbildung voraus. 

Sehen Sie in der römisch-katholischen Kirche Strukturen oder Aspekte, die Sie anfälliger machen für spirituellen Missbrauch als beispielsweise die evangelisch-lutherische Kirche? 

Eichener: Ich glaube, dass jede Kirche, vielleicht sogar jede Religion anfällig ist für spirituellen Missbrauch. Nur zeigt er sich unter jeweils anderen Voraussetzungen. In der katholischen Kirche sind Hierarchien offensichtlicher, darum spielt der Gehorsamsbegriff eine grössere Rolle. Die Hirt:innen treten dadurch weniger verschleiert als solche auf. Sie inszenieren diese Rolle auch offensiver und erwarten entsprechend klaren Gehorsam von den Schafen. Das ist ein Spezifikum der römisch-katholischen Kirche. Das heisst aber nicht, dass die katholische Kirche per se anfälliger für Missbrauch ist.

*Elis Eichener (36) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter (Postdoc) an der Professur für Praktische Theologie an der evangelisch-theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Er forscht u.a. zur Queeren Theologie, zu Fragen der (Pastoral-) Macht in der Kirche sowie in der theologischen Aufarbeitung sexualisierter Gewalt. Eichener referierte im September an einer Tagung der Evangelischen Kirche Schweiz und der Paulus-Akademie zum Thema «Spiritueller Missbrauch».

 

 


Meldestelle und Schutzkonzept 

Im Bistum Basel gibt es eine Meldestelle für spirituellen Missbrauch. An diese können sich Betroffene und Zeug:innen wenden. Das Bistum hat ausserdem ein Schutz-  und ein Interventionskonzept explizit zu spirituellem Missbrauch erarbeitet. Alle Informationen dazu finden Sie hier.