Jeweils am Sonntagmittag klingelte es. Ein älterer Mann stand vor der Tür, dem man die Armut ansah. Der Vater drückte ihm etwas in die Hand, während er sich nach seinem Ergehen erkundigte. Uns Kindern wurde erklärt, dass der Besucher «ein armer Kerli» sei und im sogenannten Bürgerheim an der Gotthardstrasse wohne. Daneben befand sich das Waisenhaus, sodass dieser Strassenabschnitt in unseren Köpfen zur düsteren Gegend wurde.
Beide Einrichtungen waren Teil jenes weitverzweigten Unternehmens, das der in Müstair GR geborene Kapuziner und Sozialreformer Theodosius Florentini (1808–1865) ins Leben gerufen hatte. Er hielt sich an die Devise «Was Bedürfnis der Zeit, ist Gottes Wille» und gründete mit nicht erlahmender Kraft Schulen, Spitäler, Waisen- und Armenhäuser.
Von der Barmherzigkeit zur Sozialversicherung
So gilt er als einer der Pioniere auf dem langen Weg von der Barmherzigkeit zur Sozialversicherung, den die Schweiz – und nicht nur sie – eingeschlagen hat. Denn in früheren Jahrhunderten kümmerten sich nebst privaten wohltätig handelnden Personen vor allem Angehörige der Kirchen, ihrer Bruderschaften und Ordensgemeinschaften um Bedürftige. Seit dem 17. Jahrhundert existierte zudem die sogenannte Almosenkammer, Ausdruck der landesväterlichen Wohltätigkeit, die als soziale Institution der staatlichen Verwaltung wirkte.
Doch verband sich mit ihrer Tätigkeit noch ein anderes Interesse, verstand sie sich doch als Garant für innere Ordnung und Sicherheit. Denn «das Gesindel» mit seinem liederlichen Lebenswandel bedrohte die Stabilität: Seine oftmals «moralische Verkommenheit» gab ein schlechtes Beispiel. Ein Nährboden für üppig spriessende Vorurteile, die sich auch im Sprachgebrauch äusserten, bereitete sich vor.
Daher wurden Ende des 19. Jahrhunderts verarmte Erwachsene und Kinder als «administrativ Versorgte» in Anstalten eingewiesen. Die Gesunden unterlagen der Arbeitspflicht, waren doch schon im 17. Jahrhundert Zwangsarbeits- und Korrektionsanstalten entstanden, deren Praxis bis weit ins 20. Jahrhundert galt. Männer wurden oft in Fabriken und Landwirtschaftskolonien eingegliedert, Frauen arbeiteten in Nähstuben, Wäschereien und Spitälern.

Bis zum Zweiten Weltkrieg fielen in der Schweiz die Unterstützungsbeiträge sehr bescheiden aus, sodass Krankheit, Arbeitsverlust oder der Tod des Vaters, der Mutter eine Familie unversehens in Not stürzen konnte.
Albert Anker hat ihre Situation in seinem Gemälde «Die Armensuppe in Ins» (Kunstmuseum Bern) 1893 anschaulich dargestellt. Zäh war der Kampf um die Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV). Schon die Befürworter des Generalstreiks 1918 hatten sie vehement gefordert, doch erst 1947 wurde sie Wirklichkeit.
Immerhin wurden ab 1918 Menschen mit unfallbedingten Verdienstausfällen von der SUVA entschädigt, waren aber zudem auf private Wohltäter:innen angewiesen, die meist nicht finanziell weiterhalfen, sondern Naturalien spendeten. Auch die folgenden Versicherungen traten zögerlich in Kraft: die Invalidenversicherung 1960, die Ergänzungsleistungen ab 1965, die Überbrückungsleistungen als jüngste Sozialversicherung 2021.
Der Exkurs in die schweizerische Sozialgeschichte umreisst die soziale Situation der Menschen in Katharina Geisers Buch «Die Wünsche gehören uns». In seinem Anhang finden sich weitere hilfreiche Anmerkungen der Autorin. Die 1956 im zürcherischen Erlenbach geborene Katharina Geiser, die Germanistik studiert und mehrere Bücher publiziert hat, verweist auf ihre familiären Wurzeln in bernischen und waadtländischen Arbeiter- und Bauernfamilien.
Literatur zum Thema Armut
Nun stellt sie in ihrem neuen Buch die Ururgrossmutter Elise Linder-Brand (1868–1953) in den Mittelpunkt, die gegen ihren Willen aus der Wohnung in Steffisburg geholt und von ihren Töchtern ins «Brüggli» eingewiesen wird, wo sie nach wenigen Tagen stirbt. Dieses Armenasyl auf der Fluhmatt in Thun, von Diakonissen geführt, ist fiktiv, aber in der bildhaften Schilderung den Realitäten um 1950 nachempfunden. Für ein Kostgeld von fünf Franken täglich werden die «Armenhäusler» versorgt. Aber wer hier richtig ankommen will, hat sich zahlreichen Vorschriften zu fügen, muss (sofern überhaupt vorhanden) Geld und Schmuck abgeben, darf keine Freundschaften schliessen, soll sich mit dem kümmerlichen Essen begnügen und nicht murren, wenn er im Schlafsaal mit schnarchenden, hustenden, streitbaren Mitbewohnenden untergebracht wird, wo das Fenster nachts geschlossen bleibt.
Die unzureichenden hygienischen Verhältnisse sind dabei auch dem deutlichen Personalmangel geschuldet. Katharina Geiser hält in der Erzählgegenwart nur die wenigen Tage von Elises Eingewöhnung in den schwierigen Heimalltag fest. Rückblenden holen Sequenzen aus der Vergangenheit hervor: Elises notbedingte Tätigkeit als Prostituierte, ein uneheliches Kind, ihre Arbeit als Wäscherin für die Thuner Kaserne, die guten Jahre mit ihrem zweiten Mann Gottfried und mit dessen Sohn Karli.
Wie ein Chor gruppiert sich um Elise das Schicksal der «Brüggli»-Insassen, deren Biografien dank aufwendiger Recherche nachgezeichnet werden, sodass eine Polyphonie des Elends aufklingt. Bevor Katharina Geiser jedoch mit der Niederschrift begonnen hat, hielt sie die von einem schweren Leben gezeichneten Gesichter mit feinen Bleistiftstrichen fest. Damit schuf sie eine Galerie jener, von denen der Schlusschor in Bert Brechts «Dreigroschenoper» (1928) singt: «… Und man siehet die im Lichte / Die im Dunkeln sieht man nicht.»
Vor bald fünfzig Jahren, 1978, wirkte ein Buch wie ein Fanal im schweizerischen Literaturbetrieb: die Autobiografie der Bernerin Rosalia Wenger (1906–1989) mit dem Titel «Rosalia G., ein Leben». Diese wies auf das verschwiegene Leid von Menschen auf der Schattenseite hin und gab ihnen endlich eine Stimme. Auch sie hegten wohl Wünsche, wie sie die «Brüggli»-Bewohnenden geäussert haben: ein «Echt Kölnisch Wasser 4711», einen Pinguin umarmen, die Susanna in Mozarts «Figaro» singen, ein gebratenes Poulet essen.
Katharina Geisers Buch reiht sich in diese Tradition ein. Sie berichtet eindringlich von der Qual unbekannter Mitmenschen, bewahrt aber auch sorgsam ihre kleinen Freuden auf. Als Motto wählt sie den Satz einer Schriftstellerin, bei deren Namen man zusammenzuckt – Adelheid Duvanel. Denn diese Basler Autorin ging mit der Not als steter Begleiterin durchs Leben und schrieb den denkwürdigen Satz: «Vielleicht hilft es, wenn man an einem Apfel riecht.»

Buchtipp
Katharina Geiser: Die Wünsche gehören uns. Jung und Jung KG, Salzburg 2025.