Die Bergpredigt ist die erste grosse Redekomposition im Matthäusevangelium (Matthäusevangelium 5–7). Hier lässt Matthäus seinen Protagonisten Jesus gleich zu Beginn der öffentlichen Wirksamkeit zentrale Inhalte seiner Botschaft formulieren. Viele bekannte Jesusworte finden sich in dieser Rede: die Seligpreisungen ebenso wie die Worte vom Salz der Erde und dem Licht der Welt, der Aufruf zur Feindesliebe ebenso wie das Vaterunser oder die goldene Regel.
Von Anfang der Rede an zeigt Matthäus seinen Jesus im Dialog mit den jüdischen Schriften. Dabei geht es an keiner Stelle darum, dass Jesus die Tora oder andere Schriften ausser Kraft setzen oder einschränken würde. Vielmehr geht es um die Auslegung der Schriften durch Jesus. Dies wird besonders deutlich in dem Abschnitt, der zumeist als «Antithesen» bezeichnet wird, weil sich Jesus hier explizit mit den Weisungen der Tora auseinandersetzt (Matthäusevangelium 5,21–48).
Diesem Abschnitt wird eine Art Grundsatzerklärung vorangestellt, die die uneingeschränkte Geltung der Schriften und speziell der Tora bekräftigt:
«Denkt nicht, ich sei gekommen, die Tora und die Propheten aufzulösen! Ich bin nicht gekommen, um aufzulösen, sondern um zu erfüllen.»
(Matthäusevangelium 5,17)
Dabei bedeutet das «Erfüllen» – wörtlich übersetzt: «voll machen» – weder eine Ablösung der Tora durch Jesus noch eine Überbietung. Vielmehr meint es eine Bekräftigung und Bestätigung – und damit das Gegenteil des «Auflösens».
Nach dieser Grundsatzerklärung kann es in dem folgenden Abschnitt, den sogenannten «Antithesen» (Matthäusevangelium 5,21–48), also keinesfalls um ein «Auflösen» oder «Aufheben» der Tora gehen, sondern um deren rechte Auslegung. Diese erfolgt in der Perspektive des Matthäusevangeliums «selbstverständlich» durch Jesus, der als souverän argumentierender Schriftgelehrter präsentiert wird. Auch dabei zeigt sich: Die Auslegung der Tora durch Jesus, wie sie Matthäus vorstellt, ist bereits in einen jüdischen Diskussionskontext eingebettet und greift Vorbilder aus biblischen und ausserbiblischen Texten auf.
Auch das Gebot der Feindesliebe, das als besonders spezifisch für Jesus gilt und mit dem Jesus das alttestamentliche Nächstenliebegebot aus Leviticus 19,18 weiterführt und konkretisiert, hat Vorbilder in jüdischen Schriften, die ein faires Verhalten auch gegenüber Feinden fordern (vgl. Exodus 23,4–5; Buch der Sprüche 25,21–22). Auf diese Weise stellt Matthäus seinen Jesus in seiner Rede auf dem Berg als einen überzeugenden jüdischen Lehrer dar, der gegenüber anderen Schriftinterpretationen seine Auslegung des Gotteswillens vorträgt und dabei durchaus pointiert Stellung bezieht.
Mit Matthäus gilt es zu lernen, Jesus inmitten der jüdischen Diskurse der Zeit zu verorten – und mit (dem matthäischen) Jesus gilt es zu lernen, genauer auf die heute oft unbekannten jüdischen Stimmen der Zeit zu hören. Das hilft, Jesus besser zu verstehen – und mit ihm die Menschen jüdischen Glaubens zu seiner Zeit und vielleicht sogar bis heute.