Sie leben im Westjordanland. Was wissen Sie über die aktuelle Situation der Menschen in Gaza?
Sumaya Farhat-Naser: Wir wissen von Verwandten und Bekannten, dass viele samt ihren Familien getötet wurden. Andere sind in israelischer Gefangenschaft und erfahren Folter, wieder andere werden vermisst. Der Krieg in Gaza vernichtet die Lebensgrundlage der Menschen, sie werden gewaltvoll vertrieben mit dem Ziel, das Land zu erobern.
Die Mehrheit der UNO-Generalsversammlung hat Ende September für eine Wiederbelebung der Zweistaatenlösung gestimmt, 150 Staaten anerkennen einen eigenen Staat Palästina. Was bedeutet das für die Palästinenser:innen?
Farhat-Naser: Die Anerkennung des Staates Palästina ist wichtig, weil das für uns ein Signal ist, dass die Staaten endlich unsere Rechte anerkennen. Zugleich haben diese Staaten das Gefühl, etwas zu tun. Die Anerkennung des Staates Palästina muss bedeuten, alles zu tun, damit der Staat verwirklicht werden kann.
Was könnte die Weltgemeinschaft aus Ihrer Sicht tun?
Farhat-Naser: Die Welt schweigt und lässt diesen Krieg zu. Die USA und Europa machen sich damit mitverantwortlich für diese Katastrophe. So wie sich die Menschen auf der Strasse gegen den Krieg stellen, müssten die Regierungen dafür sorgen, dass der Krieg gestoppt wird, durch Sanktionen, ein Verbot von Waffenlieferungen und durch Aussetzen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit.
Was können einzelne Menschen tun?
Farhat-Naser: Jeder Mensch muss Stellung nehmen, um Politiker:innen zum Handeln zu bringen. Jeder Mensch kann Hilfe leisten, damit den Notleidenden geholfen wird, und Institutionen und Gruppen, die den Frieden anstreben, erhalten bleiben. Sich zu informieren und andere zu motivieren, mitzuwirken, hilft den Menschen in den Kriegsgebieten, die Hoffnung zu behalten.
Der Anschlag der Hamas am 7. Oktober jährte sich zum zweiten Mal. Wie sehen Sie rückblickend auf diesen Tag?
Farhat-Naser: Das war eine Katastrophe. Allerdings war sie vorauszusehen. Denn die Besatzungspolitik in der Westbank und Gaza machten das Leben zur Hölle. Die Hamaskämpfer:innen verstehen sich als Widerstandsbewegung, Israel bekämpft sie als Terrorist:innen. Die Perspektive für Frieden und Sicherheit für Palästina ist verschwunden und Israel hat die Unterdrückung verstärkt, ebenso die Landnahme, die Trennung von Familien, die Verweigerung der Heimkehr und die Vertreibung.
Würden Sie den Anschlag der Hamas demnach nicht als Terror bezeichnen?
Farhat-Naser: Jedes Töten ist ein Verbrechen. Der Angriff am 7. Oktober war und bleibt Terror, sowie auch das Töten von Zivilist:innen auf allen Seiten Terror ist.
Sie sind Christin. Was bedeutet Ihnen Ihr Glaube?
Farhat-Naser: Der Glaube ist mir eine Quelle der Kraft und Hoffnung. Er ist die Stütze, die das Leben erhält. Der christliche Glaube deckt sich zu weiten Teilen mit dem jüdischen und dem muslimischen Glauben. Wir ergänzen uns. Die Differenzen lehren uns, dass Unterschiedlichkeit normal und bereichernd ist.
Jesus war Jude. Fühlen Sie sich deswegen im Dilemma?
Farhat-Naser: Jesus war Jude und Palästinenser. Warum soll da ein Dilemma sein? Unser Konflikt ist nicht religiös, darf nicht religiös werden. Unser Dilemma heute ist, dass die Politik von rechtsradikalen Religiösen in Israel gemacht wird, die ihre Politik als ein Gebot Gottes deuten.
Mit der Wahl von Papst Leo verbanden viele Katholik:innen die Hoffnung, er möge sich für Frieden einsetzen. Ist der Papst für Sie in diesem Konflikt ein Hoffnungsträger?
Farhat-Naser: Es wäre wichtig, dass der Papst Stellung nimmt, um Frieden zu fördern. Leider fehlt den Kirchen der Mut, sich politisch zu engagieren. Wir wollen dennoch glauben und hoffen.
Sie sind in der Friedensarbeit aktiv. Wie sieht Friedensarbeit konkret aus angesichts des Krieges?
Farhat-Naser: Wenn man ums Überleben kämpft und die Gefahr jede Minute präsent ist, dann ist es schwer, Menschen zu motivieren, Hoffnung zu behalten. Wir brauchen eine Perspektive. Bildung, Aufklärung und Qualifizierung in der Kunst der Gewaltfreiheit wie auch psychosoziale Begleitung und Beratung sind dringend nötig. Meine Erziehungs- und Bildungsarbeit in den Schulen und mit Frauen ist ein Beispiel für eine neue Lebens-Orientierung, damit die Jugend nicht zerbricht. Sie soll lernen, Verantwortung zu tragen, sich selbst zu schützen und zu entfalten, damit Perspektiven geschaffen werden und die Hoffnung erhalten bleibt.
Was verbindet Israelis und Palästinenser:innen aus Ihrer Sicht?
Farhat-Naser: Beide Völker sind Opfer der eigenen Politik. Alle leiden unter derselben Sache und wollen eigentlich dasselbe: Freiheit im eigenen Staat, Sicherheit und Frieden.
Lässt sich auf diesen Gemeinsamkeiten eine Vision für die Zukunft aufbauen?
Farhat-Naser: Wenn wir uns als gleichwertige Menschen verstehen und einander dieselben Rechte zugestehen und wenn wir das gemeinsam beschliessen, weil wir es wollen, dann wird es auch Realität werden.
Ihnen sind persönliche Begegnungen zwischen Palästinenser:innen und Israelis wichtig. Wie realistisch sind solche Begegnungen angesichts der aktuellen Situation?
Farhat-Naser: Es ist unmöglich, dass Menschen beider Seiten sich treffen. Es gibt getrennte Strassen für beide Seiten. Hinzu kommt, dass es sehr unangenehm und schmerzhaft ist, über die Verbrechen zu sprechen. Wir haben kaum Worte, um uns darüber auszutauschen. Alle wissen, dass das, was geschieht, schrecklich und beschämend ist. Alle fühlen sich machtlos und als Opfer.
Gelingt es Ihnen, hoffnungsvoll zu bleiben?
Farhat-Naser: Ich habe keine andere Wahl als zu glauben und zu hoffen. Ich ermutige mich, dranzubleiben und andere mitzuziehen. Zusammen schaffen wir es.
* Weil die Internetverbindung in Palästina immer wieder unterbrochen ist, musste das Interview am 30.9.2025 schriftlich geführt werden
Zur Person
Sumaya Farhat-Naser (77) ist christliche Palästinenserin und lebt im Westjordanland. Sie widmet sich seit Jahrzehnten der Friedensarbeit und dem gegenseitigen Verständnis. Sie hat in Deutschland Biologie, Geografie und Erziehungswissenschaften studiert. Farhat-Naser hat mehrere Bücher über die Hintergründe des Nahostkonflikts geschrieben und ist regelmässig auf Vortragsreisen im deutschsprachigen Raum.
Frieden für Palästina – Vortrag und Gespräch mit Sumaya Farhat-Naser
Sonntag, 2. November, 17.00, Pfarrei St. Marien, Bern