Exerzitien oder Stille-Retreat? Kontemplation oder Yoga? Wer heute nach Möglichkeiten sucht, in einem begleiteten Rahmen in die Stille zu gehen, wird rasch fündig im religiösen wie im säkularen Bereich.
Was unterscheidet diese Angebote voneinander? Geht es bei säkularen Formen um mehr als das eigene Wohlbefinden? Haben kirchliche Angebote auch für moderne, selbstverantwortliche Menschen etwas zu bieten?
Wir haben diese Fragen zwei Personen gestellt, die solche Angebote machen. Nicole Macchia, Gemeindeleiterin in Thun, begleitet mit einem ökumenischen Team die «Grossen Exerzitien im Alltag» (siehe Infobox). Diese gehen zurück auf den Heiligen Ignatius von Loyola (1491–1556). Aus seinen Erfahrungen hat er eine «Schule des Hörens auf Gott» entworfen, wie es auf der Website heisst.
Im Inneren Ordnung machen
Reto Weishaupt, Meditationslehrer und Achtsamkeitstrainer im Raum Bern, bietet unter dem Namen «Mindfulmind» Stille-Retreats an. Diese orientierten sich an «säkularisierten, buddhistischen Grundkonzepten», kombiniert mit Elementen aus dem modernen Achtsamkeitstraining MBSR, heisst es auf der Website.
«Im Alltag haben wir viele To-dos, wir sind viel im aussen. Dadurch laufe ich Gefahr, nicht mehr im Kontakt mit mir selbst zu sein», erklärt Nicole Macchia. «Exerzitien bedeuten, innezuhalten und zu schauen: Wo stehe ich? Es geht darum, in meinem Inneren Ordnung zu machen.»
Das Wort kommt vom lateinischen Verb für üben. «Wir üben, ruhig zu werden, uns nicht abzulenken. In die Stille zu kommen und einfach sein zu dürfen, ohne zu denken. Es kann etwas dauern, bis man das kann, und es braucht ein gewisses Durchhaltevermögen. Aber es lohnt sich, dranzubleiben», so Macchia.
Mehr als Stressreduktion
Auch Reto Weishaupts Retreats richten sich an Menschen, die stark im aussen sind und sich selbst dabei bisweilen abhandenkommen. «In der Achtsamkeitsmeditation geht es darum, präsent zu sein, möglichst offen, ohne Wertung», erläutert er. In den kurzen Wochenend-Retreats stehe im Fokus, zur Ruhe zu kommen, den eigenen Körper zu spüren, die Alltagsrollen abzulegen. In den längeren Retreats, die bis zu sechs Tage dauern, «geht es um mehr als Stressreduktion. Das wertfreie Spüren und Schauen ist innere Arbeit, das kann anstrengend sein», so Weishaupt.
«Wenn man sich nicht ablenkt und sich dem stellt, was sich dann zeigt, kann das auch schmerzhaft sein.» Ein Prozess, den auch Nicole Macchia bestätigt. So weit, so ähnlich. Was aber ist das Ziel dieser inneren Übungen? Geht es dabei um mehr als das eigene Wohlbefinden?
Letzteres sei sehr wichtig, betont Nicole Macchia. «Nur wenn ich mich wohl fühle, kann ich mich öffnen und durchlässig werden. Aber das eigene Wohlbefinden ist nicht das Ziel.» Dieses formuliert sie als «sich Raum schenken. Wenn ich achtsam mit mir in Kontakt bin, gebe ich Raum für Gott. Durch ihn kann ich zu den Menschen gehen». Sie skizziert ein Dreieck «Ich – Gott – andere Menschen». Der Titel der Grossen Exerzitien lautet denn auch «Gott einen Ort sichern».
Die Sache mit Gott
Von Gott spricht Reto Weishaupt nicht. Dennoch hat der ehemalige Katholik die Vorstellung von «etwas Grösserem, das uns verbindet und leitet». Auch wenn er selbst dafür den Begriff «das Göttliche» verwendet, spricht er in den Retreats eher von «Essenz» oder von «etwas, das grösser ist als du». In der Meditation könne eine innere Weite entstehen, ein Bewusstsein dafür, «dass ich grösser bin als nur die Person, die hier sitzt.»
Dieses Bewusstsein führe letztlich auf die Handlungsebene: «Es geht darum, die Verbundenheit mit allen Lebewesen zu spüren, ihnen zugewandt zu sein und Gutes zu wünschen», so Weishaupt.
In seinen Worten klingt das von Nicole Macchia skizzierte Dreieck durchaus auch an. Auch betonen beide, dass die Erfahrungen der Stille letztlich in den Alltag zurückfliessen und im eigenen Tun, in den Beziehungen sichtbar werden sollen. Ist es also letztlich nur eine Frage der Begrifflichkeit?
«Wir sind jesuanisch unterwegs», benennt Nicole Macchia einen inhaltlichen Unterschied. «Unser Schwerpunkt liegt auf christlichen Werten.» Basis seien denn auch biblische Texte. «Es geht darum, eine Gotteserfahrung zu machen und dieser eine Form zu geben.»
Durch den Bezug auf Jesus Christus werde Gott zu einem Gegenüber, zu einem Du. «Aber ich kann das auch anders benennen, etwa ‹liebende Aufmerksamkeit›, ‹grosse Kraft› oder ‹innere Mitte›.»
Säkularer Retreat im Kloster
«Wir sprechen letztlich vom Gleichen», sind denn auch beide überzeugt. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass Reto Weishaupts Retreats auch schon mal in einem Kloster stattfinden. «Klöster verbinden viele Menschen mit der Erfahrung von Ruhe, als Gegenpol zum turbulenten Alltag, aber auch mit Gemeinschaft und Gastfreundschaft.»
Kirche hingegen assoziierten viele womöglich mit Sakralität und mit einer Distanz zwischen Priester und Gläubigen. «Säkulare Meditationsangebote wirken demgegenüber zugänglicher», sagt Weishaupt.
Zudem: «Heutige Menschen entscheiden selbstverantwortlich. Viele brauchen keinen Geistlichen, der ihnen vorschreibt, was sie tun müssen und was nicht.» Auch Nicole Macchia vermutet, dass Vorurteile und fixe Bilder ein Grund sein könnten, weshalb Menschen mit Sehnsucht nach Tiefe nicht unbedingt kirchliche Angebote aufsuchten. Skeptischen Interessierten rät sie deshalb: «Komm an den Schnupperabend, probier’s! Wenn es für dich nicht stimmig ist, gehst du weiter!»
Hinweis: Meditationen und Retreats mit Reto Weishaupt finden sich unter mindfulmind.ch.
Grosse Exerzitien im Alltag
Das ökumenische Projekt lädt von November 2025 bis Pfingsten 2026 zu Exerzitien im Alltag ein: Schweizweit nehmen sich Menschen in ihrem je eigenen Alltag täglich Zeit für Stille. Sie treffen sich regelmässig in Gruppen zum Austausch. Ein Begleitbuch unterstützt den Weg mit Impulsen.
Im Kanton Bern gibt es Gruppen in Bern, Belp, Worb, Thun, Lyss und Langenthal.
Info-Treffen in Thun: Do, 14. 8., 18.30–21.00, St. Marien, Kapellenweg 9, Thun.
Infos zu anderen Gruppen unter www.grosse-exerzitien-im-alltag.ch.