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«Die Trennung zwischen Religion und Philosophie ist nicht immer klar zu ziehen», sagt Omar Ibrahim. Foto: Sylvia Stam

«Als Philosoph gebe ich keine Antworten»

Omar Ibrahim leitet als freiwilliger Mitarbeiter einen "philosophischen Zirkel" in der Psychiatrie Münsingen. Er selbst versteht sich als "philosophischer Seelsorger" und sein Angebot als Ergänzung zur kirchlichen Seelsorge.


«pfarrblatt»: Sie verstehen sich als philosophischer Seelsorger. Betreiben Sie also Seelsorge ohne Gott? 

Omar Ibrahim: Philosophie bewegt sich sowohl innerhalb wie ausserhalb von Religion, sie ist also weder ausschliesslich religiös noch ausschliesslich atheistisch. Philosophische Seelsorge fragt: Wie können wir trotz unterschiedlicher Lebenswelten und Verständnisse miteinander ins Gespräch kommen? Das tut christliche Seelsorge natürlich auch, aber mein Zugang basiert auf philosophischen Prinzipien und nicht auf theologischen. 

Aber das Angebot richtet sich primär an Menschen, die nicht religiös sind. 

Ibrahim: Gerade in der Psychiatrie ist es ein Angebot für Menschen, die schlechte Erfahrungen mit der Kirche gemacht haben und darum nicht mit einer Pfarrperson ins Gespräch kommen möchten. Hier sehe ich mich als Ergänzung, nicht als Konkurrenzangebot. 

Was für Menschen suchen das Gespräch mit Ihnen? 

Ibrahim: Manche sagen: «Ich war gerade bei der reformierten Pfarrerin, jetzt möchte ich noch mit Ihnen über dieses Thema sprechen.» Philosophie ist für viele eine Art,  sich miteinander auszutauschen, die nicht konfessionsgebunden ist. Mir fehlen natürlich liturgische Kompetenzen, dennoch habe ich viele Gespräche mit religiösen und spirituellen Menschen, ebenso mit konfessionsfreien. Es gibt aber auch Leute, die sagen: «Mit Philosophie kann ich nichts anfangen, ich gehe lieber zur Pfarrerin.» 

Welche Fragen gilt es in den Einzelgesprächen zu klären? 

Ibrahim: Oft geht es um die Lebensführung: Woran kann ich mich orientieren? Wie gehe ich mit Widersprüchen, Schwierigkeiten und Unsicherheiten um? Die Fragen werden oft so gestellt, dass die Person eine Antwort möchte. Als Philosoph bin ich jedoch nicht derjenige, der Antworten gibt. Ich bin da, um zu helfen, Antworten für diese Person zu suchen. Oder um mit ihr auszuhalten, dass es keine Antworten gibt. 

Können Sie ein Beispiel nennen? 

Ibrahim: Jemand fragt: «Warum kann ich nicht glücklich sein?» Hier frage ich zurück: «Was heisst Glück denn für Sie? Muss man es finden oder gibt es einen anderen Bezug zum Glück, als es zu finden?» 

Was für Fragen haben Menschen, die bereits mit der Pfarrerin gesprochen haben?

Ibrahim: Es geht oft um eine andere Perspektive: Was heisst beispielsweise Schuld, wenn man sie ohne Transzendenzbezug betrachtet? Nur der Begriff oder das Gefühl, das sich dabei einstellt. Wie kann ich mit Schuldgefühlen in der Gesellschaft umgehen? 

Was ist der Unterschied zur Psychotherapie?

Ibrahim: Psychotherapie arbeitet grundsätzlich auf das eigene Ende hin: Welche Entwicklungen müssen stattfinden, damit die Therapie überflüssig wird? Als Seelsorger begleite ich die Menschen in der Phase, in der sie gerade sind. Gleichzeitig achte ich darauf, keine Abhängigkeiten zu generieren. 

Christliche Seelsorger:innen können auf biblische Geschichten zurückzugreifen, die einem Menschen helfen können, mit Leid umzugehen. Worauf kann die philosophische Seelsorge zurückgreifen? 

Ibrahim: Das ist ein grosser Nachteil meiner Praxis: Es gibt keine philosophische Gemeinschaft, die eine jahrhundertealte Tradition mit Geschichten hat, die vielen Menschen bekannt sind. Manchmal versuche ich, anzuknüpfen, indem ich frage: «Gibt es in Ihrer Kultur eine Geschichte, die genau in diese Situation passt?» Als philosophischer Seelsorger kann ich aber auch bewusst eine neue Perspektive einbringen. 

Was kann das konkret heissen? 

Ibrahim: Eine Christin sprach mit mir über ihre Vorstellung von der Hölle. Ich wies sie auf einen japanischen Philosophen hin, der die Hölle ganz anders sieht als die christliche Tradition. Ich gebe sozusagen eine Kontrastfolie, über die wir diskutieren können. 

Rituale wie ein Gebet oder ein Segen können Menschen stärken. Welche Möglichkeiten haben Sie als philosophischer Seelsorger? 

Ibrahim: Wir können zum Beispiel die eigenen Sorgen auf einen Stein schreiben und in den Fluss werfen. Allerdings wirkt das anders, als wenn ein Ritual eine lange Tradition hat und die Leute es aus ihrer Kindheit kennen, wie bei christlichen Ritualen. Das kann ich nicht leisten. Hier muss ich die Grenzen meiner Praxis beachten und verweise an kirchliche Seelsorger:innen. 

Christ:innen haben das Bild eines liebenden Gottes, von dem sich jeder Mensch geliebt wissen darf. Das kann in schwierigen Situationen hilfreich sein. Wie geht Seelsorge, die ohne diese transzendente Dimension auskommt? 

Ibrahim: Die biblische Geschichte des Mannes aus Samaria, der einem Verletzten am Wegrand hilft, handelt nicht von Konfessionen, sondern von einem Menschen, der da ist. So sehe ich auch meine Rolle als Seelsorger: Ich bin einfach da. Ob die Menschen das dann so deuten, dass Gott oder Allah mich geschickt hat, überlasse ich ihnen. Ich selbst habe keinen Sendungsauftrag. Ich bin als Mitmensch da und trage die Situation mit. 

Wären Sie manchmal froh, Sie könnten auf einen transzendenten, liebenden Gott zurückgreifen? 

Ibrahim: Auf jeden Fall! Es geht um die Frage, wie ich die Werte, die ich praktiziere und kultiviere, begründen kann. Natürlich hat die Philosophie auch einen Rahmen mit einer Ethik. Aber es ist etwas anderes, wenn man seine Haltung durch einen theoretischen Rahmen mit einem liebenden Gott legitimieren kann, als wenn ich selber ethische Theorien heranziehe, um zu erklären, warum eine Handlung angebracht ist oder nicht. 

Es gibt in der Philosophie verschiedene ethische Positionen. Auf welche berufen Sie sich? 

Ibrahim: Auf viele religiöse! (lacht) Es gibt viele Philosophen mit einem Bezug zur Religion, auch aus dem jüdischen Kontext: Emmanuel Levinas, Martin Buber, auch der Psychotherapeut Carl Rogers war von diesen beiden geprägt. Die Trennlinie zwischen Religion und Philosophie ist nicht immer klar zu ziehen: Ist Buddha eine religiöse oder eine philosophische Figur? Ist Jesus nur eine religiöse Figur oder auch eine philosophische? 

An der Uni Bern ist ein Lehrgang in philosophischer Seelsorge geplant. Wann startet dieser? 

Ibrahim: Wir starten mit einzelnen Modulen, die ich nächstes Jahr im August in Bern und eines auch in Basel im Oktober gebe. Dafür gibt es bereits Anmeldungen. Wenn die Resonanz gut ist und genügend Interesse besteht, soll man philosophische Seelsorge als CAS-Lehrgang studieren können, gleichwertig mit dem CAS in Gefängnis- oder Spitalseelsorge. Er soll auch offen sein für Theolog:innen, weil man philosophische Seelsorge auch aus einer christlichen Perspektive betreiben kann. 

Inwiefern kann philosophische Seelsorge die kirchliche bereichern oder inspirieren? 

Ibrahim: Es kann für eine kirchlich seelsorgerisch tätige Person nützlich sein, die eigene Praxis durch eine philosophische Linse anzuschauen. Eine Hochschulseelsorgerin sagte mir, sie könne meine Theorie in  der Praxis brauchen, da habe ich ihr  neue Perspektiven gezeigt. Im Gespräch mit mir hat sie ihre eigene Praxis aus einem anderen Blickwinkel betrachtet und versteht nun besser, warum sie gewisse Dinge so tut. Im Unterschied zur akademischen Philosophie erlebe ich die Theologie und die Landeskirchen sehr offen für diesen Austausch.

Hinweis: In einer früheren Version des Artikels hiess es, Omar Ibrahim arbeite als philosophischer Seelsorger im Psychiatriezentrum Münsingen (PZM). Dieses weist darauf hin, dass Ibrahim lediglich als freiwilliger Mitarbeiter auf der Altersstation wöchentlich einen “philosophischen Zirkel” leite. (korr. 21.10./sys)

 

Zur Person

Omar Ibrahim (33) hat an der Universität Bern Philosophie und Sozialanthropologie studiert. Er verfasste seine Dissertation zum Thema «Philosophical Care: Entwurf einer praxistheoretischen Grundlegung». Auf Basis seiner Forschung bietet die Uni Bern ab August 2026 ein erstes Modul für einen künftig geplanten Studiengang «Philosophical Care» an. Im Rahmen eines Pilotprojekts leitet er als freiwilliger Mitarbeiter einen “philosophischen Zirkel” in der Psychiatrie Münsingen.